Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
hören und verstehen …«
»Überlass das Verstehen mir und Eben, Flo. Wir haben mit eigenen Augen gesehen, was wannenweise aus dem Boden kommt, und direkt mit dem Besitzer gesprochen. Sie haben einen Vortrieb und Stollen, fünf Meilen insgesamt, und über fünfhundert Leute im Bergwerk. Wenn du einmal unten warst, willst du nie mehr wieder hinein, und ich habe auch nicht die Absicht. Überlass es den Arbeitern. Ich bin zu alt für solche Dinge, und übrigens, das wahre Geld liegt in der Spekulation. Mach dir darüber keine Gedanken, denn wir werden Millionäre sein, wenn es sich erst mal rumgesprochen hat.« Jamie hielt sie in den Armen, und zum letzten Mal fühlte Flo sich bei ihm sicher.
Durch irgendeinen Trick waren die Lichter im Haus ausgegangen, und wieder einmal stand Flo im Scheinwerferlicht vor dem Duschvorhang. »Meine Damen … und Herren. Ich bringe neue Reichtümer aus vergangenen Tagen. Nicht Gold, meine Lieben, sondern etwas anderes …«
Das Baby auf Becketts Schoss begann zu wimmern, und seine Mutter zog aus ihren Rockfalten einen Schnuller hervor, den sie ihm in den Mund steckte. Der Griff des Nuckels war mit Gold belegt.
Flo räusperte sich und sprach mit kräftiger Stimme: »Ich lenke nun eure Aufmerksamkeit auf die Entlohnung für leichtfertige Spekulationen.« Sie zog den Vorhang auf, und statt des Goldschatzes stapelte sich in der Badewanne nun ein etwa zwanzig Zentimeter hoher, unordentlicher Haufen Papier. Bei näherer Betrachtung stellten sich die Dokumente als identische Aktienzertifikate heraus, geschmückt mit dem amerikanischen Weißkopfseeadler, der in seinen Krallen einen Grubenpickel und Union-Dollars hielt.
Zwei Jahre lang sammelten die Worths diese Zertifikate, sie kauften mehr Minenaktien, als sie es sich leisten konnten, und lebten, wie sie es gewöhnt waren, auf Kredit und mit Schulden. Diese Lebensart auf Pump schränkte sie nicht in ihren Gewohnheiten ein; wenn überhaupt, lebten sie noch extravaganter vom verheißungsvollen Gewinn aus ihrem riskanten Spiel. Mit Kriegsende im Frühjahr stiegen die Preise beständig, doch trotz der Kosten wurde Tochter Jessie mit einer Gouvernante auf eine Sommerreise nach Europa geschickt. Eben fand eine Frau und hielt um ihre Hand an, und Bruder Jamie schenkte ihm einen in der Stadt bis dahin einmaligen Junggesellenabschied, einen Ball mit ganzem Orchester, ein Mahl mit über Land per Zug herantransportierten Fasanen und Blumen aller Art, alles aus der eigenen Tasche bezahlt, und zum Teufel mit den Kosten. Ihr Hochzeitsgeschenk war ein rein silbernes Tafelservice, ebenso ein Symbol für brüderliche Bande wie eine Ermutigung für den Kauf und Gebrauch von Silber für ihre Bekannten. Sie verschenkten sogar Geld, das sie nicht hatten, an verschiedene Wohltätigkeitsvereine für die Versorgung obdachloser Kinder, denn für die Eroberung eines Platzes in der Gesellschaft war es wichtig, sich so zu verhalten, als gäbe es die Millionen, und seien es auch nur auf dem Papier.
Die Abrechnung traf sie wie ein Schlag, was so oft für schlechte Nachrichten gilt. Es hieß, die Leute hätten kein Vertrauen mehr, obwohl Flo nicht verstehen konnte, wie normale Leute an einem Tag Vertrauen haben konnten und am nächsten nicht mehr. Der Vertrauensverlust führte zu einer Panik, und die Panik verursachte den Niedergang. Der Wert der Aktien der Minengesellschaft stürzte ins Bodenlose, und es bestand keine Hoffnung auf Erholung. Über Nacht waren die Worths pleite. Die Blase war geplatzt, und nicht einmal eine Seifenschliere blieb zurück. Nachdem sie ihre Anteile zu Pennybeträgen verkauft und Rechenschaft über ihre beträchtlichen Schulden abgelegt hatten, blieb ihnen so gut wie nichts, außer dem Oktogonhaus mit seinem Inhalt und ein wenig Bargeld, das Flo auf ihren Namen besaß, um den Hausangestellten den Monatslohn zu bezahlen. Die Bediensteten wurden natürlich sofort entlassen und Telegramme an Jessie geschickt, sie solle auf der Stelle aus Italien zurückkehren. Sie waren ruiniert, auch Eben, der von seiner Hochzeitsreise zu weniger als nichts heimkam und mit seiner jungen Braut in den dritten Stock des Oktogonhauses einziehen musste. Sie – ihr Name war Rebecca – war dort allein an jenem Sonntag im Oktober, als der Big One zuschlug, das schwerste Erdbeben, das bis zu der Zeit je San Francisco erschüttert hatte.
Die Worths, ohne Jamie, waren an diesem Sonntagmorgen in der Kirche, und als der erste Erdstoß kam, mahnte sie der Priester,
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