Sommernachtszauber (German Edition)
weichen Schuhen.
»Sie brauchen dazu mehr Aufzug, sehe ich«, hatte Judith frech gesagt.
»Judith, bitte …«, hörte Johannes sich noch sagen.
Georg Steiner dagegen hatte Judith kalt gemustert. »Lass mal, Junge. Viel Glück, Fräulein Goldmann. Sie werden es brauchen.«
»Weshalb?«, hatte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue gefragt. In ihrer Stimme lag Herausforderung, keine Furcht. Oh, Judiths Mut. Sie war eine Goldmann. Ihr konnte nichts passieren, das hatte sie geglaubt.
Georg Steiners schmales Lächeln verursachte Johannes noch heute eine Gänsehaut. »Die Julia ist ja eine sehr anspruchsvolle Rolle. Voll innerer Reife, die sich eine junge Frau, oder eigentlich noch ein Kind, nur schwer vorstellen kann.«
»Gut, dass Sie das so genau wissen. Aber Sie waren ja früher auch mal Lehrer, nicht wahr? Ein
richtiges
Vorbild für die Jugend! War das Ihre Idee, der Hitlerjugend zu sagen, sie sollen ihrem Lehrer aufs Maul schlagen, wenn er nicht brav mit der Partei im Kanon singt?«
Damit drehte Judith ihm den Rücken zu. Ihr Mut und ihre Frechheit nahmen Johannes den Atem und erschreckten ihn.
»Bis gleich auf der Bühne, Johannes. Ach ja, wir feiern danach bei uns. Großer Bahnhof. Meine Mutter hat Hunderte von
Gefilte Fisch
bestellt!« Judith war gegangen, ohne Brigadeführer Steiner noch eines Blickes zu würdigen oder ihn aus Höflichkeit ebenfalls einzuladen.
Georg dagegen hatte Johannes ungewohnt vertraut in den Oberarm geknufft. »Mensch, es sind alle da! Weißt du, was das für mich bedeutet? Und nicht nur für mich – für
uns
!«
»Wer denn – alle?« Unbehagen kroch mit Spinnenbeinen an ihm hoch.
»Na, wer schon? Goebbels, Speer, von Ribbentropp – sie geben alle meinem Neffen die Ehre. Nur der Führer selbst fehlt. Dass du mir keine Schande machst!« Georg hatte gelacht, doch seine Augen waren ernst geblieben.
Es sind alle da.
Die Spitze der Partei war im Theater versammelt. Also so gut wie kein Druck, den Romeo des Jahrhunderts zu spielen. Den Romeo des Jahrhunderts. Ha!
Johannes erwachte wie aus einem Traum. Einem Albtraum. Seine erste und einzige Rolle. Anfang und Ende einer großen Karriere.
Er versuchte, seine Bitterkeit über all das, was hätte sein können, hinunterzuschlucken. Was hätte sein können, war nun egal. Es zählte nur, was war: die Ewigkeit.
An jenem Abend waren die Lichter im Fasanentheater ausgegangen. Die Türen wurden verriegelt und verrammelt und das Haus dem Vergessen überlassen. Nur er war noch da. Er streifte durch das Haus, in dem er bald jeden Winkel kannte. Johannes zwang sich, es nicht als Gefängnis zu empfinden. Er ging meist von seinem Dachboden hinunter in das Foyer und von dort durch das Theater, hoch auf die Bühne.
Seine Beine zitterten dann. Hier gehörte er hin, auf diese Bretter! Dann unter das Geisterlicht, das im Aufgang zwischen Bühne und Kulissen hing. Die geheimnisvolle Kraft der Lampe durchströmte ihn. Es kribbelte in seinen Adern, wenn er sichtbar wurde. Dann war er ein Mensch, mehr noch: ein Mann. Er genoss seine Körperlichkeit. Für jeden echten Schauspieler war schließlich der Gedanke, nicht gesehen oder bemerkt zu werden, das Schlimmste, schlimmer als der Tod.
Immer wieder geschah es, dass ihn ein Geräusch herumfahren ließ. Eine irrsinnige, irrwitzige Hoffnung: »Judith? Bist du da? Was ist …?« Dann verstummte er vor dem Echo seiner eigenen Stimme. Er bekam keine Antwort und würde auch keine bekommen.
»Was ist mit ihr geschehen? Mit – ihnen allen?«, fragte er die in die Holzvertäfelung geschnitzten Fratzen und Masken und die Gemälde im Foyer. Sie würden es am ehesten wissen, diese dicken Ölschinken, von denen einige Mitglieder von Judiths Familie zeigten.
Ihm blieb als Gesellschaft nur das von den Fensterscheiben gefilterte Sonnenlicht – oben, in den Dachgauben, wo das Glas nicht vernagelt war – und nachts der kalte Mondschein. Die Fledermäuse, die im Gebälk des versteckten Dachbodens hausten, und die Eule, die dort ihr Nest gebaut hatte. Staub und Spinnweben begleiteten seine laut- und gewichtlosen Schritte, wenn er in der ersten Zeit durch das Haus irrte.
Am Anfang hatte er nicht glauben können, dass dies wirklich geschah. Sicher würde sich bald alles als ein Irrtum, als ganz dummer Scherz entpuppen. Aber nein: Aus der ersten Zeit wurden Jahre und Jahrzehnte. War sie das, die Ewigkeit? Er schlief und wachte zugleich. Er war auf der Reise und doch schon angekommen. Seine Erlösung lag in ihm und
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