Sommernachtszauber (German Edition)
– ein Vorsprechen! Konnte das denn sein? Er beugte sich weiter vor, um auch ja nichts zu verpassen.
Nach seiner ersten und letzten Premiere hatte es im Theater keine Proben oder Aufführungen mehr gegeben. Und plötzlich öffneten sich die Türen zu einem Vorsprechen?! Etwas brach in Johannes auf, ohne dass er es in Worte fassen konnte. Er wollte lachen, springen, einfach mit dabei sein, Teil des Ganzen – und wichtig. Wichtig für das Stück und für das Theater.
Seine erste und letzte Premiere hatte das Haus in einen dramaturgischen Dornröschenschlaf sinken lassen. Als ließen das Schicksal und die Geschichte es nun alles sein, nur kein Theater mehr. War es besser so?
Johannes trat auf die Treppe zu, doch dann zögerte er dort oben auf der ersten Etage. Weshalb? Es konnte ihn doch sowieso niemand sehen. Er zögerte für sich und nicht für die anderen. Das Leben dort unten traf ihn wie ein Schlag. Er war ihm hilflos ausgeliefert.
Das Foyer füllte sich mehr und mehr mit jungen Frauen. Ständig wurde die schwere Tür nach draußen aufgestoßen und jemand anders kam herein. Auch sie hatten große Taschen bei sich und hielten Papiere oder kleine Bücher gezückt. Kein Zweifel, das war Text! Johannes umfasste die Balustrade fester und reckte den Hals. Wie fantastisch. Seine Ohren sehnten sich nach den ewigen Worten, die für die Bühne geschrieben waren. Ihnen wohnte ein Rhythmus und ein Zauber inne, der sich für ihn mit nichts vergleichen ließ. Sie waren
vollkommen
.
Er blickte zu den Schwingtüren, die zum Theater selbst führten. Sie waren noch geschlossen, sodass er das Geisterlicht nicht sehen konnte. Es brannte, wie in jedem Theater, neben der Bühne. Egal, er spürte sein Leuchten auch durch die Wände hindurch. Diese Macht rann wie Blut durch seine Adern: Früher war es nur ein Aberglaube für ihn gewesen. Bis die kleine, halb in den Kulissen verborgene Lampe dort drinnen zu seiner Religion wurde. Ihr Licht gab ihm Kraft, seit über 70 Jahren, ob er es wollte oder nicht. Der Schein war seine Lebenslinie, wenn er noch von
Leben
sprechen konnte.
In seine beinahe farbige Erregung über den Trubel im Foyer mischte sich ein dunkler Spritzer. Vielleicht sollte er statt Leben eher
Dasein
sagen? Was sonst waren diese langen Jahre seit Judiths Fluch gewesen?
Wie oft hatte er wieder und wieder seine letzten Stunden durchgestanden? Wie oft musste er sie noch durchstehen? Manchmal dachte er, dass ihm dazu die Kraft fehlte. Aber etwas, das stärker war als er, zwang ihn dazu, weiter zu sein. Bis in alle Ewigkeit. Judiths Fluch:
Deine Strafe ist die Ewigkeit
, hatte sie geflüstert, bevor sie sich selbst das Messer in den Bauch gestoßen hatte.
Die Worte brannten wie Feuer. Alles, was er an ihr geliebt hatte, hatte ihn getötet. Ihre Unbedingtheit, ihr Stolz und ihr Temperament. Er schluckte hart und es schmeckte bitter.
Wenn er die Augen schloss und ganz still war, ganz still hielt, dann hörte er noch immer ihre Stimme, als sein Onkel seine Garderobe betreten hatte: »Ich wusste gar nicht, dass hier heute Vorsprechen für die Rolle des Mephisto ist.«
Georg Steiner hatte in der Tür gestanden und wirklich wie des Teufels rußiger Bruder ausgesehen. Der Anblick seiner schwarzen Uniform mit dem Hakenkreuz am Arm hatte sich in Johannes’ Netzhaut gebrannt. In Farbe und Schnitt der Uniform lag eine erschreckende, entsetzliche Ästhetik. Es war plötzlich in der Garderobe viel zu voll gewesen. Sie beide hätten fliehen sollen, Judith und er. Aber er war geblieben. Er war verdammt noch mal geblieben!
Johannes schloss die Augen. Er war wieder im Damals und es war wie das Heute. Manches verging nie. Gab es nicht eine Religion, die das Rad der ewigen Wiedergeburt als Strafe für Sünden kannte? Genauso ging es ihm hier. Judith hatte ihn verflucht – wie viel Macht hatte sein Zaudern ihr gegeben? Alle Macht ihrer Welt. Das Geisterlicht dort neben der Bühne brannte seitdem nur noch für ihn allein.
Die Garderobiere hatte unterwürfig geknickst. »Herr Brigadeführer Steiner, Ihre Kappe –«
»Johannes! Junge, was bin ich stolz auf dich«, hatte sein Onkel gesagt und dem Mädchen seine Kappe zugeworfen. Bei seiner Umarmung hatte Johannes Georgs Rasierwasser gerochen. Herbes Sandelholz. Ein überheblicher Duft.
»Du siehst sogar in Strümpfen noch wie ein Mann aus!« Georg Steiner hatte auf Johannes’ Kostüm gezeigt, den leichten Wams, die kurze Pumphose, den Kurzmantel und die langen Strümpfe zu spitzen,
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