Sommernachtszauber (German Edition)
gleichzeitig außer Reichweite. Johannes aß nicht, trank nicht, schlief nicht, aber sehnte sich nach allem.
Wie die Zeit verging, spürte er nicht. Der Spiegel zeigte ihm sein Bild nicht mehr. Zuerst hatte ihn das entsetzt. Dann war das leere polierte Glas zur Normalität geworden. Seine Muskeln blieben straff – er konnte noch immer den ganzen Dachboden auf seinen Händen laufend durchqueren – und sein Haar blond und voll. Die Haut fühlte sich über seinen markanten Gesichtszügen noch immer glatt an. Er war Johannes, der so gut aussah, dass kein Mädchen ihn hatte anblicken können, ohne zu erröten.
Deine Strafe ist die Ewigkeit
, flüsterten Sonne und Mond, Fledermäuse und Eule, Spinnen und Staub, Fratzen, Masken und Gemälde mit Judiths Stimme.
Judith, die doch selbst nie hatte hören wollen.
Aber die Zeit verging doch. Er maß sie an einzelnen Ereignissen, so wie dieser sehr kalten Nacht, als überall Glasscheiben klirrten – Schneeflocken wirbelten und der Wind pfiff ins Gebäude, als am Fasanentheater eines der unteren Fenster zerbrach.
»Judenbuden!«, schrie jemand da draußen und warf eine brennende Fackel ins Haus. »Weg mit dem Dreck! Fahrt zur Hölle!«
Johannes stampfte die Flammen aus und hielt sich die Ohren zu. Ganz Berlin zersprang in tausend Splitter – so klang es zumindest. Hass flutete durch die Straßen. Johannes hatte ihn bis in sein Theater spüren können. Er schwemmte Angst vor sich her und beides durchweichte die Menschen.
Das Theater war so weit verschont geblieben. Als eine zweite Fackel ins Foyer flog, hatte Johannes sie gepackt und dem Täter mitten in seine überraschte Fratze geworfen.
Judenbude. Fahrt zur Hölle.
Was war mit den Goldmanns geschehen?
Als die Bomben fielen, hatte Johannes mit Eimer um Eimer Wasser versucht, die Brände zu löschen. Er erinnerte sich an die Angst, die das Geräusch der herannahenden Flugzeuge in ihm ausgelöst hatte. Sie klangen wie die Mücken am See, in dem er an Sommerabenden mit Judith baden gegangen war, nur tausendmal lauter. Das schrille Pfeifen der fallenden Geschosse durchbohrte das Trommelfell. Ausweichen konnte ihnen nichts und niemand. Das Theaterdach bekam einiges ab.
Dann kamen die großen gut im Futter stehenden Kerle in anderen Uniformen. Ihnen fehlte der Schrecken, der Onkel Georg und seine Freunde so treu wie ein Schatten begleitet hatte. Sie sprachen wie Charlie Chaplin und hausten wie die Räuber. Überall stank es nach dem Zeug, das sie aus Konserven löffelten. Die Männer trampelten in mit Matsch und Kot beschmierten Stiefeln die Etagen rauf und runter, Jazz dudelte aus den Transistorradios und sie übten sich im Messerwerfen auf die Porträts im Foyer. Sogar das schöne, stolze Gesicht der großen Goldmann, Judiths Großmutter, zerschnitten sie.
Als ein GI in das Holzbrett vor dem Kartenschalter
Victory
ritzte, schnappte Johannes sich sein Messer und ließ es vor aller Augen in der Luft tanzen.
Das Gebrüll, das daraufhin folgte, klingelte ihm heute noch in den Ohren:
A ghost! It’s a ghost! Get him! No, let’s get outta here!
Als sie fort waren, fehlten sie ihm. Oft merkte er erst, was ihm fehlte, wenn er es verlor. Judith war die Ausnahme gewesen. Sie hätte er nie verlieren wollen, in keinem Augenblick.
Dann wurden eines Tages die Türen aufgesperrt. Sonnenlicht flutete ins Foyer und Johannes zog sich in die Schatten zurück. Bauarbeiter hängten die Decken ab und entfernten die Bestuhlung teilweise aus dem Theater, um den Boden mit weichem Gummi zu belegen.
Kurz darauf kamen die Kleinen: Das Theater war ein Kindergarten geworden. Er mochte die Wurze und spielt manchmal heimlich mit, wenn sie einem Ball hinterherliefen oder einen hohen Turm aus Bauklötzen bauten. Wenn sie abgeholt wurden, saß er auf der Balustrade, so wie jetzt, während er all die schönen jungen Frauen bewunderte, und ließ dabei die Beine baumeln.
Nach ein paar Jahren schloss der Kindergarten und das Gegenteil zog ins Haus – eine Altenbegegnungsstätte. Johannes hatte einen bitteren Geschmack im Mund, wenn er an die Leute dachte, die sich
Senioren
nannten. Ihr Anblick und ihr Dasein machten ihn hilflos. Bald wären sie tot. Bald wären sie frei. Er musste noch warten. Bis in alle Ewigkeit. Manchmal wollte er schreien, doch seine Kehle blieb stumm. Was hätte er für ein Leben führen können? Mit Judith. In diesem Alter wäre er gefeiert und berühmt gewesen und vielleicht bereit zum Abtreten.
Bei Tanztees im Foyer flüchtete
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