Sommernachtszauber (German Edition)
er sich hoch auf seinen Dachboden zwischen die Kleiderständer voller mottenzerfressener Kostüme und Kisten mit Requisiten. Foxtrott. Rumba. Samba. Cha-Cha-Cha. Johannes presste sich die Fäuste an die Ohren, um das Lied vom Lebensende, das nicht ihm galt, nicht hören zu müssen.
Nur wenn sie einen Tango spielten, mussten seine Füße mittanzen. Tap, tap, tapititap. Er konnte nicht anders und er war dazu in der Lage, ganz ohne den Boden zu berühren. So, wie Judith und er an manchen Abenden in Berliner Kellerklubs den Tango getanzt hatten: Sie mit langem dunklem Rock, aus dessen Schlitz beim Ausfallschritt blass ihr Schenkel trat. Und diesem Ernst im Blick. Genau dem Ernst, den sie später gemacht hatte.
Tango mortale.
Irgendwann blieben auch die Senioren weg. Die Poster, die zu ihren Veranstaltungen einluden, verblassten an der Wand des Foyers. Johannes riss sie ab.
Die Jahre schlichen dahin und weitere Besucher kamen und gingen – ein Gruppe Hippies besetzte das Theater für einige Zeit. Als sie schon lange wieder fort waren, durchkämmten Herren in feinen Anzügen das Gebäude und faselten von einer lukrativen Immobilie und begehrtem Wohnraum nach der Wende. Johannes verstand kein Wort, aber schließlich gelang es ihm, die dubiosen Männer mit einem kleinen Feuer im Foyer wieder zu vertreiben.
Alles Leben, so schien es, zog sich aus dem Theater zurück. Nur das kleine Geisterlicht neben der Bühne blieb an. Eine Lampe, die immer brannte, damit die Geister des Theaters in der Nacht ihren Weg fanden und ihre eigenen Stücke aufführen konnten. Es gab ihm Kraft und schwächte ihn gleichzeitig mit seiner ewigen Geduld. Es machte ihn zur Motte: Dort musste er hin, denn dort wurde er er . Es gab ihm ein Lampenfieber der anderen Art, denn es ließ ihn werden und sein.
Nur: Wann würde seine Einsamkeit vergehen?
Und nun plötzlich all diese Mädchen hier! Groß und klein, dick und dünn. Hübsch oder apart, wenn er es höflich ausdrücken wollte. Johannes konnte sich nicht sattsehen an so viel Leben, so viel Haut, so viel Haaren!
Die Schwingtüren zum Foyer öffneten sich ein letztes Mal und ein großes schlankes Mädchen betrat das Theater. Sie trug ein langes dunkles Kleid mit bunten Blumen darauf. Die braunen Haare waren straff und hoch auf dem Kopf zum Pferdeschwanz zusammengebunden und ihr Gesicht schien neben dem breiten Mund und der geschwungenen Nase nur aus ihren großen dunklen Augen zu bestehen. Sie hatte ein Ballerinagesicht, sah aber aus, als tanze sie auch gut Tango.
Judith
, wollte Johannes sagen. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber zögerte dann.
JUDITH
!
Er würgte, denn Übelkeit überschwemmte ihn, ehe er von Sehnsucht und Freude überrollt wurde: Judith, und doch nicht Judith. Mit einem Mal war sie wieder da, vor seinem inneren Auge, obwohl diese junge Frau eine ganz andere war. Aber wer? Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Ihr Pferdeschwanz schwang bei jedem ihrer Schritte mit. Ein glänzendes, dunkles, lockendes Pendel, das ihn hypnotisierte.
Carolines Herz sank, wie immer in diesen Situationen. Im Foyer warteten unter dem großen Kronleuchter bestimmt an die 20 junge Schauspielerinnen. Wer hätte gedacht, dass noch so viele andere hier waren? Die Mädchen sahen kurz zu ihr auf, checkten Caroline ab und machten dann wieder, was sie vorher gemacht hatten: rezitieren, sich noch einmal ihre Passage durchlesen oder Atem-, Stimm- und Lockerungsübungen. Alle wirkten so unglaublich selbstsicher: cool an die Wand gelehnt oder auf den Treppen sitzend und sich unterhaltend. Warten gehörte ganz sicher zum Repertoire einer Jungschauspielerin! Ihr brach der Schweiß aus. Hier drinnen war es wärmer als draußen.
Caroline wollte sich gerade in eine Ecke verziehen, als jemand rief: »Caroline! Was machst du denn hier?«
»Mia! Was machst du denn hier?«
Mia lachte. »Ich hab zuerst gefragt. Vorsprechen natürlich. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du auch da bist. Das hier kann eine Wahnsinns-Opportunity sein.« Sie hatte heute offensichtlich einen ihrer denglischen Tage, an denen sie beide Sprachen mixte. Auf verwirrte Nachfragen erzählte sie gern, dass sie ihr internationales Abitur an einer Schule bei Oxford gemacht hatte.
Ihre hellen Augen musterten Caroline schnell. »TOLL siehst du aus, Caro. So – Jane-Birkin-mäßig. Dünn und cool«, sagte Mia dann. Caroline war geschmeichelt, auch wenn sie wusste, dass Mia allen Leuten Komplimente machte. Wenn sie Osama Bin Laden hätte
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