Sommernachtszauber (German Edition)
ertragen. Sie stürzte zur Tür und dann hinaus auf den Balkon.
»Michi!«, schrie sie.
Er drehte sich zu ihr um. Seine Hände klammerten sich an die Metallstange der Balustrade, auf der er saß. Schon der Anblick dieses schwankenden Gleichgewichts drehte Caroline den Magen um. Er saß, wo ihr Vater gesessen haben musste. Was um Himmels willen tat er da?
»Komm nicht näher«, schluchzte er. Er trug nur seinen dünnen Spiderman-Pyjama. Seine Zähne klapperten und seine Lippen waren blau. Wie lange saß er da schon so? Den ganzen Abend etwa? Ihre Mutter ging immer früh zu Bett und es war weit nach Mitternacht.
»Mein Gott, was machst du da? Michi, komm runter. Bitte. Komm. Komm zu mir«, sagte Caroline und zwang ihre Stimme, so ruhig wie möglich zu klingen. Sein Anblick zerriss ihr das Herz; vor Furcht rauschte ihr das Blut in den Ohren. Sie streckte den Arm nach ihm aus. »Nimm meine Hand. Langsam. Ich halte dich. Komm zu mir!«
»Ach, du gehst doch eh wieder weg. Immer wieder. Bis du nie mehr wiederkommst. Und mich lässt du zurück.«
»Was redest du da für einen Unsinn?«
»Du hörst mir ja doch nicht zu. Du sollst nicht gehen. Ich will das nicht. Also warte ich auf Superman.«
»Und wo soll der sein, Michi? Superman, das bist du! Das bin ich! Das sind wir beide!«
»Nein, schau!« Er ließ los und wollte in die Nacht zeigen. »Er kommt!«, schrie er.
Seine Hände flogen auf wie kleine Schmetterlinge. Einen Augenblick lang schwebte sein Körper da oben im Nichts. Eine kleine Hülle Leben vor dem unendlichen, wolkenlosen Himmel, an dem Millionen von Sternen mit vollkommener Gleichgültigkeit leuchteten.
Caroline hechtete nach ihm. Sie stolperte und ihr Kleid verfing sich am Hasenstall. Sie hörte den Chiffon reißen, doch bekam Michi gerade noch um den Bauch zu fassen. Sie zerrte ihn nach hinten und sie beide fielen hart auf die Steinplatten des Balkons.
»Michi«, weinte sie und umschlang ihn mit aller Kraft. »Mach das nie wieder. Was sollen denn diese Dummheiten!«
Er presste sich an sie, zitternd vor Kälte und Angst. »Das sind keine Dummheiten. Ich habe dich so lieb, Caroline. So lieb. Du verstehst das gar nicht, sondern gehst einfach weg. Wenn du nicht mehr da bist, bin ich ganz allein. Also warte ich auf Superman, der mich rettet«, schluchzte er.
Sie schlang ihre zitternden Glieder um ihn, begrub ihr Gesicht in seinen vom Tau feuchten Haaren und sog den Duft der kalten, klaren Nachtluft darin ein. »Doch«, flüsterte sie dann und küsste ihn über das ganze Gesicht. Seine Haut glühte. Er musste Fieber haben. »Doch. Das begreife ich schon. Aber weißt du, was?«
»Was?«, schniefte er und zitterte wieder.
»Ich bin erwachsen. Eines Tages wirst du auch erwachsen sein und dein Leben beginnt. Jetzt stehst du in den Startlöchern, wie am Sportfest. Für mich ist der Startschuss schon gefallen. Ich bin schon mal losgelaufen. Das tun alle irgendwann mal. Du auch, du wirst sehen. Aber auch wenn ich gehen muss, so verlasse ich dich nie. Und du holst mich immer wieder ein. Weil ich das will, okay?«
Michi wischte sich die Nase an Carolines Korsett ab. »Das klingt schön«, schniefte er.
»Soll ich es noch mal sagen?«, fragte sie und wiegte ihn hin und her.
»Ja«, sagte er und wagte ein Lächeln.
Caroline wiederholte es, doch ihre Stimme versagte ihr beinahe. »Auch wenn ich gehen muss, so verlasse ich dich nie.«
Michi schmiegte sich an sie.
»Ich bin immer da«, flüsterte Caroline. »Ich bin immer da. So ist das, wenn man jemanden liebt. Wenn man so sehr liebt, dass es wehtut.«
Caroline hatte schweigend in der Maske gesessen, solange Mia an ihrem Make-up bastelte. Sie trug bereits ihr Kostüm für die erste Szene: ein schlichtes weißes Leinenkleid, das ihre Arme frei ließ und bis zu ihren Waden reichte.
»Fertig?«, fragte sie dann und musste ihre Stimme zur Ruhe zwingen.
»Gleich«, sagte Mia einsilbig.
Caroline hatte jetzt wirklich keinen Nerv, sich auf Mias Gemütslage einzustellen. Ihr ganzer Körper kribbelte. Die letzte Nacht mit Johannes und die Angst um Michi war wie Schwimmen in einem stürmischen Meer gewesen. Sie war erschöpft vom Kampf in diesen Wellen. Wo war Johannes jetzt? Ihr Anker, ihr Rettungsboot, an das sie sich klammern und bei dem sie ruhen konnte? Der sie durch jeden Sturm trug? Sicher, im Theater wimmelte es nur so von Menschen. Da konnte er sich nicht zeigen. Aber dennoch: Sonst spürte sie ihn um sich. Heute nicht. Unsinn, sagte sie sich
Weitere Kostenlose Bücher