Sommernachtszauber (German Edition)
beinahe, doch seine Stimme trug sich durch das Theater.
»Ich kann nicht«, sagte sie rau.
Doch, du kannst, dachte Johannes. Wenn du das nicht kannst, kannst du auch auf der Bühne nichts. Weißt du, was es bedeutet, jeden Abend da rauszugehen und immer wieder alles zu geben? Du kannst es!, feuerte er sie stumm an.
»Doch. Du kannst«, sagte Carlos laut. »Wir hören zu. Und nichts von dem, was du sagst, wird dieses Theater verlassen. Wer quatscht, fliegt raus, damit das klar ist.«
Alle nickten. Caroline legte sich die Hände vor ihr Gesicht.
»Er hatte versprochen zu bleiben«, sagte sie leise. »Bei Michi und mir. Er hat versprochen, uns nie alleinzulassen. Und dann ist er doch gegangen …«
»Wer?«, fragte Ben. Auch er ballte seine Hände zu Fäusten, als müsse er sich zusammenreißen.
Johannes knurrte innerlich. Fass sie nicht an, Ben, warnte er ihn stumm. Fass sie nicht an. Selbst verheult war sie noch verdammt hübsch. Fass sie nicht an.
»Mein Vater.«
»Wie ist er gegangen? Ist er mit einer anderen Frau durchgebrannt? «, fragte Carlos sanft.
Caroline schluchzte. »Nein. Er hat sich umgebracht. Und uns hat er zurückgelassen. Meinen kleinen Bruder und mich.«
»Was hast du da empfunden?«
Es dauerte, bis Caroline sich gefasst hatte, und alle gaben ihr die Zeit, die sie dazu brauchte. Sie wischte sich die Tränen ab und sagte hart: »Wahnsinnigen Zorn. Wie konnte er das tun? Uns so zu verraten und zu verlassen?«
Carlos nickte. »Danke, Caroline. Wolltest du ihm nachgehen?«
Caroline betastete ihre Unterlippe, die spröde war. Wie verletzlich sie bei dieser Geste wirkte. Johannes zog es sein Inneres zusammen. »Ja. Viele Male. Aber ich muss auf Michi aufpassen. Meine Mutter kann das nicht.«
»Aber wieder lieben willst du nicht?«
»Lieben heißt sich öffnen. Vertrauen. Mut zur Verletzung haben«, sagte Caroline lakonisch und schwieg dann.
Carlos nickte.
»Und du, Carlos?«, fragte Ben ihn plötzlich. »Sag du uns doch, was du von der Liebe hältst.«
»Liebe heißt, Vorurteile zu überwinden«, antwortete Carlos knapp. »Und jetzt an die Arbeit. Ich lese die Einführung.«
Johannes beobachtete, wie Caroline mit zitternden Fingern ihren Text öffnete. Er dachte über das nach, was er gerade gehört hatte. Julia folgt Romeo in den Tod, der gegen ihre Vereinbarung ist. Das absolute Verlassen nach dem absoluten Vertrauen. Anders kann sie mit seinem Verrat nicht fertigwerden. Ein Weiterleben ist nicht möglich. Caroline fand die Kraft jeden Tag wieder. Oder etwa nicht?
Johannes schloss die Augen, als der erste Aufzug gelesen wurde. Konnte irgendjemand diese unsterblichen Sätze so sprechen wie er selbst? Damals hatte ein Wort von ihm genügt, um Hunderte von Zuschauern in seinen Bann zu schlagen. Statt Blut hatte er das Spiel, die Worte, die Gesten in den Adern gehabt. Der einsame Lichtkegel, der ihn suchte und fand, der sich auf ihn und auf niemand anderen richtete. Nur auf ihn .
In diesem Augenblick beugte sich Ben zu Caroline und zeigte auf eine Textzeile. Er lächelte sie vertraulich an, doch Caroline nickte nur konzentriert.
Johannes spürte Wut in sich aufsteigen. So einer wie der hatte doch in jedem Hafen eine Braut. Sollte er mit einem schnellen Griff den Klapp-Mechanismus von Bens Stuhl lösen? Vor aller Augen auf den Hintern zu fallen, hatte schon so manchen Casanova beschämt.
Aber vielleicht war das gar nicht nötig, denn Carlos bellte nun: »Konzentration, bitte! Dritter Aufzug, fünfte Szene. Julia widerspricht ihren Eltern. Sie will den Grafen Paris nicht heiraten …«
Caroline las nun ihre Passage und Johannes saß ganz still. Er sog ihre tiefe, raue Stimme ein und genoss jedes Wort. Wieder versenkte sie sich in die Zeilen, wie beim Vorsprechen. Sie wollte offenbar ohne Rettungsring in die Rolle der Julia springen, die doch eine tiefe, tiefe See war … Johannes widerstand der Versuchung, sie an der Schulter zu berühren, sie vor dem Ertrinken zu retten. Sie war gut, aber sie hatte noch viel zu lernen. Ein roher Diamant. Konnte Carlos ihn schleifen?
Doch er hielt sich mühsam zurück. Nicht einmischen, Johannes, mahnte er sich. Damit war er in den vergangenen Jahrzehnten gut gefahren. Aber hier war irgendetwas anders , ohne dass er sagen konnte, was.
Caroline stieß nun den letzten Satz der Szene hervor, in dem schon alles Drama des Stückes angelegt war: » Schlägt alles fehl, hab ich zum Sterben Kraft! «
Ihre Stimme bebte und verebbte. Dann strich sie sich
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