Sommernachtszauber (German Edition)
stehen würde …«
»Ich mir auch nicht«, kommentierte Michi von hinten. »Bist du jetzt ganz durchgeknallt und übst schon für den Oscar?«
Caroline wurde brennend rot, legte die Zahnpasta zurück und huschte an ihm vorbei in den Flur. Michi ging ihr auf die Nerven. Sie war doch nicht sein Pausenclown. Immerhin tat sie das alles ja auch für ihn. Oder etwa nicht?
Es dauerte, bis sie das Schloss des
Bimah
aufbekam. Der Landstreicher saß wieder neben dem Eingang des Theaters und hatte gerade auf seiner Mundharmonika
Sag mir, wo die Blumen sind
gespielt. Oder spielen wollen. Die Melodie war nur vage zu erkennen gewesen. Er sah zu, wie sie sich abmühte, aber bot nicht an, ihr zu helfen.
»Brichst du ein?«, fragte er stattdessen neugierig.
»Ne. Ich hab einen Schlüssel. Siehst du doch«, erwiderte Caroline und kopierte dabei seinen Tonfall. Er grinste.
»Die mit dem Schlüssel in der Hand sind die gefährlichsten Einbrecher.«
»Steht das auch in der Bibel?«, fragte sie spöttisch.
»Kaum. Ist auf meinem Mist gewachsen.« Er blies ein paar Töne auf der Mundharmonika und sang dann:
»Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie geblieben?
Sag mir, wo die Blumen sind, wo sind sie hin?
Sag mir, wo die Blumen sind, Mädchen pflückten sie geschwind!
Wann wird man je verstehn, wann wird man je …«
Die Melancholie des Liedes ging Caroline in ihrer Müdigkeit durch und durch.
Endlich bekam sie das Schloss auf.
Der Obdachlose klatschte in die Hände. »Selbst ist die Frau!«
»Esel«, schnaubte Caroline gutmütig und er lachte.
»Ich halte Wache, meine Schöne. Damit dir nichts passiert«, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen, als Caroline im Theater verschwand. Sie hörte noch, wie er zur zweiten Strophe des Liedes ansetze:
»Sag mir, wo die Mädchen sind …«,
raunte seine Stimme wie ein Sommernachtszauber.
Die schwere Eingangstür fiel hinter ihr ins Schloss. Alles war ruhig.
Caroline stand reglos im Foyer des dunklen, stillen Theaters. Die Schwingtür klappte hinter ihr noch einige Male ins Leere, ehe sie sich plötzlich sanft schloss und endgültig jeden Ton aussperrte.
Sie versuchte, die Gänsehaut auf ihren nackten Armen zu ignorieren. Es war so dunkel hier. Und so kühl. Ob irgendwo ein Fenster offen stand? Sie fröstelte und sah hoch zu dem Kronleuchter, der bei ihrem Vorsprechen und bei jeder Probe so hell und einladend gebrannt hatte. Nun hausten Schatten zwischen seinen Kristallen, und in der Kette, mit der er in der Stuckdecke verankert war, schimmerten Spinnweben.
Wo, verdammt noch mal, war denn nur der Lichtschalter? Sie wagte kaum, sich zu rühren. Wie anders das Haus am Abend wirkte. Mit einem Mal fühlte sie sich wie ein Eindringling. Es war so still hier, dass die einzig wahrnehmbaren Geräusche von ihrem Körper stammten: ihr Herzklopfen und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren.
Sie lauschte in diese Stille hinein und alles dort schien mit ihr zu lauschen: die Treppen, die Türen und das Kassiererhäuschen. Alles, was sie im Dunkeln nur schemenhaft ausmachte. Die Stille horchte in die Stille.
»Reiß dich zusammen«, mahnte sie sich, doch der Klang ihrer eigenen Stimme erschreckte sie nur noch mehr. Ihre Hand tastete an der Wandvertäfelung entlang und suchte nach dem Lichtschalter.
Alle Gruselgeschichten, die sie je gehört, und alle Horrorfilme, die sie je gesehen hatte, erwachten mit einem Mal in ihrer Vorstellung zum Leben. Der Clown aus
ES
oder James aus
Bis(s) zum Morgengrauen
konnte hier ebenso auf sie warten wie Voldemorts Schlange.
Ihre Finger erreichten das Ende der Täfelung und ertasteten die Balustrade, an der die Stufen aus dem ersten Stock ins Foyer führten. Hier war nichts. Vielleicht an der anderen Seite? Sie setzte blind einen Fuß vor den nächsten, quer über den Teppich zur anderen Seite der Wand. Ihr Herz schlug zum Zerspringen und ihre Fantasie Purzelbäume. Was für eine dämliche Idee, hier allein herzukommen! Sie streckte die Hände aus und fühlte das Holz der Wand. Geschafft! Hier musste ihrer Erinnerung nach das Kassiererhäuschen sein. Ihre Hände folgten dem Holz, und sie spürte das kleine Brett, auf dem man früher hatte zahlen können.
Nun, da sie einen Sinn weniger hatte, verschärfte sie alle anderen. Die Stille dröhnte in ihren Ohren, es roch nach Jahrzehnten von Staub und Kälte, die Luft schmeckte feucht – oder war das ihr eigener Angstschweiß? Selbst das Holz unter ihren Fingern wirkte nun feindlich und half ihr in Richtung
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