Sommernachtszauber (German Edition)
Lichtschalter nicht weiter.
»Mist«, flüsterte sie. Mutlos ließ sie die Hände sinken. Sie schaffte es ja noch nicht mal, Licht zu machen! Das war’s dann wohl. Sie machte entschlossen doch noch einen Schritt nach vorn. Irgendwo MUSSTE der Schalter ja sein! Ihre Hand strich weiter über die Wand, in die Richtung, in der sie den Saal und die Bühne vermutete. Umsonst. Caroline kämpfte mit den Tränen. Noch ein Atemzug und sie hielte es hier drinnen nicht mehr aus. Umdrehen und davonrennen, befahl ihr ihr Instinkt.
In diesem Augenblick flammte Licht auf: Nicht nur der Kronleuchter über ihrem Kopf war plötzlich hell erleuchtet, sondern sie sah auch Licht aus dem Theater selbst kommen. Carolines Herzschlag stockte kurz. Sie blinzelte in die strahlende Helle und sah sich erschrocken um. Wie war das denn jetzt gegangen? Gab es hier etwa eine Lichtschranke? Wohl kaum. Dazu war das
Bimah
zu alt und zu verstaubt. Sie musste, ohne es zu merken, an den Generalschalter gekommen sein. Vielleicht war er in der Täfelung verborgen? Sie sah verwirrt auf das glatte Holz des Türrahmens. Nichts zu sehen. Na, egal. Hauptsache, sie konnte loslegen.
Ihr Herzschlag beruhigte sich etwas, als sie entschlossen ihren Korb nahm, die Schwingtür aufstieß und den leeren Zuschauersaal betrat. Ihre Schritte hallten durch den Saal, als sie die schiefe Ebene bis zum Bühnenrand hinablief und ihren Korb abstellte. Sie ging nicht zur Seitentreppe, sondern stemmte sich hoch und schwang die langen, nackten Beine auf die Bühne. Wie staubig noch immer alles war! Sie fegte sich Wollmäuse von ihrem Kleid.
Plötzlich kamen ihre gute Laune und ihr Wagemut wieder. Wie irre, hier allein spielen zu können. Sie hatte richtig LUST auf Julia.
Lass dich fallen, deine Rolle wird dich fangen!
, erinnerte sie sich an Carlos’ Worte. Sie stand jetzt oben am Trapez und musste dem Netz, das Shakespeares Worte vor Jahrhunderten für sie gespannt hatten, nur vertrauen.
Sie stand auf. Obwohl sie allein war, spürte sie das bekannte Gefühl: Ihr Bauch verknotete sich und die Kehle wurde ihr eng. Lampenfieber, und das vor null Zuschauern. Sie sah in die Kulissen und dann an die Bühnendecke, an der sich unzählige Kabel wanden und die schweren Leuchten hingen. Die Scheinwerfer sahen aus wie aus dem Zweiten Weltkrieg. Aber das Licht war genau richtig: intensiv und doch weich.
Sie bückte sich, nahm ihren Text aus dem Korb, ging zur Mitte der Bühne und senkte den Kopf. Nach einem Augenblick Stille, der nur ihr gehörte, begann sie mit ihren Übungen: Arme hoch, Arme zur Seite, Arme nach hinten. Schultergürtel und vor allen Dingen die Brust durch Drehungen öffnen. Hüften kreisen lassen. All der Stress saß in der Hüfte und hatte auf der Bühne nichts zu suchen. Kopf in den Nacken und keuchend ausatmen. Locker, entspannt: summen, von ganz hoch bis ganz tief, um der Stimme mehr Fülle zu verleihen. Frauen wurde weniger zugehört, weil ihre Stimmen heller waren, als die der Männer. Kopf in den Nacken, die Luft einsaugen und sie mit einem Pfeifen wieder ausstoßen, um die Kehle und auch den Brustkorb zu öffnen.
»Euer Spiel ist wie ein Haus«, sagte ihr Lehrer an der Ernst Busch. »Ohne dieses Fundament bricht es ein.«
Sie war bereit: erster Aufzug, dritte Szene. Julia mit ihrer ahnungslosen Mutter und ihrer Komplizin, der Amme. Julia ist noch voll Vertrauen und bereit, ihrer Familie zu gehorchen. In ihrem Herzen ist noch keine andere Liebe als die zu ihren Eltern. Der Verrat, den sie später an ihnen begehen wird, ist noch undenkbar.
Na los doch. Weshalb zögerte sie? Sie dachte an die Tage, als ihr Vater noch gesund war. Sie alle waren irgendwie glücklich gewesen. So ähnlich geborgen musste sich auch Julia gefühlt haben, ehe sie Romeo traf.
In ihrem Nacken kribbelte es. Als ob sie jemand beobachtete. Unsinn. Sie war doch ganz allein hier.
Caroline hob den Kopf und erstarrte: Nur einige Schritte von ihr entfernt stand in den Kulissen ein junger Mann.
Er lehnte direkt unter der Lampe, die Mia das Geisterlicht genannt hatte. Seine Arme hatte er vor der Brust verschränkt, aber es wirkte nicht ablehnend, sondern eher abwartend. Unter seinem linken Ellenbogen war ein hässlicher tiefroter Fleck auf seinem Wams.
Seinem Wams! Caroline öffnete den Mund, aber brachte nichts heraus. Ihr Blick flog über seine Kleider: Samtkappe, Pumphosen, Wams, Strümpfe und Schuhe.
Romeo! Ihr Magen verknotete sich fester, doch in einem neuen, unbekannten Gefühl, dem
Weitere Kostenlose Bücher