Sommernachtszauber (German Edition)
besuchen.«
Michi setzte sich mit einem Ruck in seinem Bett auf. »Oh ja! Das haben wir schon ganz lange nicht mehr gemacht! Aber …«
»Was aber?« Sie setzte sich an sein Bett.
»Hast du denn Zeit dafür?«
»Klar. Mach dich fertig. Ich warte auf dich, okay?«
»Schon geschehen«, sagte er, sprang aus dem Bett und zog sich in einer Mischung aus raschen, schlangenartigen Bewegungen den Schlafanzug aus und Shorts und T-Shirt an.
»Fertig!«, strahlte er.
»Was ist mit Waschen?«
»Ich kann in die Luft spucken und drunter durchlaufen. Willst du sehen?«
»Nein.«
»Schade.«
»Komm. Aber leise. Mama wecken wir später, wenn wir beim Bäcker waren.«
Er fasste ihre Hand und gemeinsam schlichen sie aus der Tür, die Caroline sachte hinter ihnen ins Schloss fallen ließ.
»Steig auf«, sagte sie und hielt das Rad still, während Michi sich auf den Gepäckträger hangelte. Sie sah sich um. »Jetzt dürfen uns nur die Bullen nicht erwischen.«
»Ich mach mich klein«, sagte Michi.
»Ganz schön schwer bist du trotzdem«, keuchte Caro, als sie in die Pedale trat, um das Rad in Bewegung zu bringen, und Michi lachte. Der Wind wehte Caroline um die Nase und sie lenkte ihr Fahrrad vorsichtig durch das bunte Leben von Kreuzberg. Im frühen Sonnenschein dudelte aus den schon vollen Cafés Musik. Sie kreuzten den kleinen Schneider, der seine braunen und blauen Stoffe zur Auswahl ausliegen hatte; den Fahrradladen; das Eine-Welt-Geschäft, vor dem heute die Peruaner auf den Panflöten bliesen – »Schau mal, da sind die Azteken!«, sagte Michi gegen den Fahrtwind; den Kiosk, der noch Brausepulver und essbares Löschpapier für ein paar Cent verkaufte; das kleine Rot-Kreuz-Geschäft, wo Caroline ein super dunkelblaues Levis-Hemd mit noch großem E im Namen gefunden hatte, was ja wirklich Gold wert war; den kleinen Flohmarkt in der Seitenstraße, wo Kinder ihre Matchbox-Autos genauso verkloppten wie die Penner das, was sie in anderer Leute Mülltonnen gefunden hatten. Immer wieder sahen sie bekannte Gesichter und einige grüßten.
»Hier gehören wir hin, was, Caroline? Das ist unser Kiez!«, sagte Michi, und sie nickte, denn vor lauter Treten war ihr die Luft ausgegangen. Trotzdem, Caroline atmete Kreuzberg ein und eine Welle von Glück spülte über sie hinweg. Sie wollte nirgendwo anders leben als hier, selbst Mias Villa am Wannsee konnte ihr gestohlen bleiben. Michi hatte recht – sie gehörten hierher. Wie schön es war, so zu leben – und Johannes zu haben.
Johannes, der nicht lebt,
flüsterte ihr Teufelchen, doch Caroline verbannte es in die Schatten ihrer Seele. Nicht heute, nicht jetzt, entschied sie. Johannes war da, das war alles, was zählte.
Er war immer da.
Das hatte er ihr versprochen. Ob er wohl Kreuzberg kannte? Wann konnte sie es ihm zeigen?
Nie,
flüsterte das Teufelchen.
Und das weißt du.
»Halt die Klappe«, sagte Caroline plötzlich zornig.
»Ich hab doch gar nichts gesagt«, protestierte Michi.
»Ach, das hab ich nur auf Vorrat gesagt. Für das nächste Mal, wenn du frech wirst!«
Zum Städtischen Berliner Friedhof in der Stubenrauchstraße war es ein gutes Stück, denn er lag in Friedenau. Caroline stand in der Morgensonne der Schweiß auf der Stirn, als sie dort ankamen. Sie lehnte ihr Rad an die Friedhofsmauer und sperrte es ab.
»Komm«, sagte sie und zog Michi mit sich. »Wie lange waren wir nicht mehr hier?«
»Seit mindestens zwei Monaten nicht. Seit du eben mit der Schule und dem Theater so furchtbar beschäftigt bist. Sonst sind wir einmal die Woche gekommen.«
»Jetzt sind wir ja da.« Caroline beschloss, den Vorwurf in seiner Stimme zu überhören.
Das Gittertor quietschte in den Scharnieren, und im Sonnenschein hatte der Friedhof nichts Unheimliches, sondern wirkte hell und geordnet. Dennoch senkten sowohl Caroline als auch Michi ihre Stimmen, als sie in den kühlen Schatten der Laubbäume eintauchten. Ihre Kronen waren so hoch, dass sich das dichte Laub zu einem Dach verflocht und das Licht filterte. Sie blieben auf den Wegen, die zwischen den gepflegten Gräbern entlangführten, und studierten routinemäßig die Namen der Verstorbenen.
Mechthild. Siegfried. Hedwig. So hieß heute einfach niemand mehr.
Aus der Ferne sah sie eine Touristengruppe um das Grab Marlene Dietrichs herumstehen, zu dem immer Leute pilgerten.
Hier steh ich an den Marken meiner Tage,
war auf dem Grabstein aus grauem Granit eingelassen.
Sie schlug mit Michi einen der Pfade nach links ein, in das
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