Sommernachtszauber
Wahrscheinlich rief Freddo sie von seinem Handy aus an – dabei konnte er doch noch gar nicht weiter gekommen sein als bis zu dem keltischen Kreuz.
Mit einer nahezu zärtlichen Geste nahm Joss den Hörer ab. »Hallo?«
»Hallo?«, fragte eine kühle Frauenstimme. »Ich versuche schon den ganzen Abend, Sie zu erreichen – haben Sie keinen Anrufbeantworter?«
»Äh, doch … aber er ist nicht eingeschaltet.« Mit einem Plumps landete Joss wieder auf dem Erdboden und fand, das waren aber schlechte Manieren für jemanden, der kurz vor Mitternacht noch versuchen wollte, ihr etwas zu verkaufen. »Vielleicht haben Sie die falsche Nummer gewählt. Und was auch immer Sie verkaufen, tut mir leid, aber ich bin nicht interessiert. Außerdem ist es schon viel zu spät -«
»Ich habe nichts zu verkaufen. Sind Sie Jocelyn? Jocelyn Benson?«
»Ja, aber -«
»Sie kennen mich nicht, Mrs Benson, aber mir ist, als würde ich Sie sehr gut kennen. Ich bin Anneka Lindstrom.«
Joss schüttelte den Kopf, sie konnte momentan an nichts anderes denken als an Freddo und den Kuss und das Lachen und das Cancan-Tanzen. »Bedaure, es ist schon viel zu spät für -«
»Ich war die Sekretärin Ihres Ehemanns«, fuhr die kühle Stimme fort. »Ihres Ehemanns Marvin, der seit einiger Zeit nicht mehr bei Ihnen ist, wie Ihnen vielleicht aufgefallen sein dürfte. Das liegt daran, dass er nun hier bei mir ist. Und sehr verzweifelt. Ich finde, wir sollten uns treffen, Mrs Benson, und zwar so bald wie möglich, um die Lage zu besprechen, meinen Sie nicht?«
23. Kapitel
J oss hatte am folgenden Morgen früh den Bus zum Bahnhof genommen und saß nun im Zug nach Paddington, in dem Büroangestellte übers Handy anderen Büroangestellten zuriefen, sie seien kurz hinter Reading. Das, dachte sie, war also die Fahrt, die Marvin jeden Tag zur Arbeit absolviert hatte, eine Fahrt, nach der sie ihn nie gefragt und von der er ihr nie erzählt hatte. Eine anstrengende Fahrt, eingequetscht zwischen Hunderten von Fremden, die gähnend und mit gelangweilten Gesichtern durch Berkshire rasten.
Und wenn sie in Paddington ankäme, würde sie …
Sie seufzte. All die überbordende Hochstimmung des vorangegangenen Tages löste sich in grauen Nebel auf. In Paddington angekommen, würde Joss, da sie sich im Londoner U-Bahn-Netz nicht auskannte, gemäß Annekas Anweisung ein Taxi nehmen und damit quer durch die Stadt nach Battersea fahren und dann …
Und was dann?
Eigentlich hatte Joss nicht die leiseste Ahnung. Anneka hatte diesen Punkt während des Telefongesprächs am Vorabend nicht näher ausgeführt, sondern sich nur vergewissert, dass Joss Adresse und Telefonnummer hatte und käme, vermutlich, um ihren geistig verwirrten Ehemann zurückzuholen, der nicht mehr wusste, wo er eigentlich hingehörte.
Ob Marvin wohl noch immer völlig weggetreten war? Oder zornig? Oder einfach nur er selbst? Joss sah die Landschaft vor dem Fenster vorbeisausen und fühlte sich von unendlicher Traurigkeit übermannt. Wie grausam, gestern einen verführerischen Blick auf Glück und Jubel und das wahre Leben erhascht zu haben, nur um all dessen im Handumdrehen wieder beraubt zu werden.
Wenn Marvin wieder zu Hause war, würde er vielleicht zulassen, dass sie bei der Künstleragentur arbeitete, doch er würde es ihr schwer machen, das wusste sie. Allerdings würde sie in diesem Punkt nicht einlenken. Nachdem sie so weit gekommen war, würde sie nicht alles wieder aufgeben. Mit dem Cancan war es etwas anderes. Marvin würde ihr garantiert nicht erlauben, Cancan zu tanzen, und sie wusste, dass sie dies nicht würde durchfechten können, auch nicht mit ihrem neu gewonnenen Selbstvertrauen. Sie mussten ja irgendwie miteinander auskommen, und sie wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass es einfacher war nachzugeben. Und wenn er sie bei Freddo arbeiten ließe, ohne allzu große Schwierigkeiten zu machen, nun, one out of two ain’t bad , dachte sie in Anlehnung an einen Song von Meat Loaf.
Freddo … Joss seufzte. Würde sie denn überhaupt mit ihm arbeiten können? Wie gute Freunde? Denn sie wusste, dass ihre Gefühle für ihn alles andere als platonisch waren, das hatte sie am vergangenen Abend gemerkt.
Traurig lächelte sie vor sich hin: Freddo und Marvin – Tag und Nacht.
Freddo war in jeder Hinsicht so, wie ein Mann eigentlich nicht sein sollte, und war doch genau das, was sie sich wünschte – sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Die Liebe war wirklich ein seltsames Spiel.
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