Sommernachtszauber
War sie denn nicht eigentlich schon viel zu alt für die erste große Liebe im Leben? Zumal es sich noch dazu um einen wild aussehenden Mann mit unseriös gefärbtem Haar, halbseidenem Schmuck und komischen Klamotten handelte?
Und sie musste sich nicht einmal mit der Frage abquälen, ob Freddo ihre Gefühle erwiderte, denn sie wusste, dass es so war. Aber nun würde das alles ein Ende haben müssen.
Joss setzte sich zurecht, sah hinaus auf die blühende Frühlingslandschaft und versuchte, sich in ihr Schicksal zu fügen.
Die beiden Mädchen, die ihr gegenübersaßen, jung, in schicken Bürokostümen, mit glattem, glänzendem Haar und französisch manikürten Fingernägeln, wichen ihren Blicken aus. Was sahen die beiden mit dem Hochmut der Jugend? Eine unscheinbare Frau mittleren Alters ohne eigenes Leben, die in Gedanken an ihre traurigen, unscheinbaren Träume den Tränen nahe war?
Sie hätte gute Lust gehabt, sich vorzubeugen und die überheblichen Blicke aus den makellosen jungen, unverbrauchten Gesichtern zu verscheuchen, indem sie ihnen erzählte, dass sie sich letzte Nacht hoffnungslos verliebt hatte in einen Mann, dessen Haare länger und blonder waren als ihre eigenen, und dass sie Cancan getanzt hatte und Soulsongs singend in einem pinkfarbenen Cadillac mit offenem Verdeck über die Landstraßen Berkshires gebraust war.
Doch wenn sie das täte, würden die beiden sie wahrscheinlich für übergeschnappt halten. Denn, dachte Joss niedergeschlagen, als die Ausläufer Londons ruckelnd vor dem Waggonfenster in Sicht kamen, falls sie glaubte, dass diese Geschichte je zu einem Happy End führen könnte, dann war sie wohl wirklich übergeschnappt.
Der Taxifahrer manövrierte sie mit professionellem Geschick durch London. Joss war angesichts der Unmengen von Fahrzeugen, die aus allen Richtungen auf sie zugeschossen kamen, der hoch emporragenden Gebäude, des Menschengewimmels, der Farben und des Lärms schlichtweg sprachlos und lehnte sich überwältigt zurück.
Sie war mit Marvin nur selten in London gewesen und alleine noch nie. Nicht mal zu einer Sightseeingtour oder einem Einkaufsbummel. Derlei hätte ja ein unerhörtes Zugeständnis bedeutet. Und Anneka war sie auch nie begegnet. Vor vielen Jahren, als der noch junge Marvin seinen Aufstieg auf der Karriereleiter begann, hatte er eine Sekretärin namens June gehabt, eine üppige, vergnügte Frau mit üppigem schwarzen Haar und noch üppigeren Ohrringen. Joss hatte June sympathisch gefunden, wenn sie sich bei Geschäftsessen oder anderen Veranstaltungen begegnet waren. Marvin jedoch nicht. Er fand June gewöhnlich. Joss vermutete, es hing damit zusammen, dass June keine Angst vor ihm hatte und nicht genügend Ehrfurcht zeigte.
Seit Marvins Beförderung in die Manageretage hatte er an geselligen Veranstaltungen der Firma nicht mehr teilgenommen, wenn es sich vermeiden ließ. Und wenn eine Konferenz oder Feier stattfand, um die er sich wirklich nicht drücken konnte, blieb er gleich in der Stadt und ging ohne Joss hin. Während dieser Zeit war Anneka seine Sekretärin gewesen, aber für Joss war das nur ein Name, der kühle schwedische Name der Person, die für die endgültige Fassung des Bagley Bugle gesorgt hatte. Liebe Güte – es kam ihr vor, als läge das alles schon Ewigkeiten zurück … Joss hatte Anneka für ihre Belastbarkeit bewundert, die sicher erforderlich war, wenn man den ganzen Tag mit Marvin zusammenarbeitete. Die Beziehung der beiden hatte sie nie in Frage gestellt, denn sie wusste, es war alles rein geschäftlich. Die Vorstellung, es könnte anders sein, wäre in ihren Augen lächerlich gewesen – und war es noch.
Nein, was auch immer Joss in Battersea vorfinden würde, ein Liebesnest sicher nicht. Den Heimweg würden Marvin und sie gemeinsam antreten.
Joss seufzte, als an den verstopften Straßenkreuzungen die Stadtteilschilder Südlondons auftauchten. Sie hatte sich Anneka immer wie eine anmutige Mischung zwischen der blonden ABBA-Sängerin und der Schauspielerin Ulrika Jonsson vorgestellt, die zu Marvins aktueller Vorliebe für IKEA-Einrichtungen passte: blond, schlank, patent, hübsch und minimalistisch.
Nun, dachte sie, als der Taxifahrer in eine Straße mit elegant renovierten dreistöckigen Häusern einbog, bald würde sie es ja wissen.
Als das Taxi davonfuhr und Joss auf der ausladenden weißen Treppe die Reihen glänzender Messing-Namensschilder betrachtete, fühlte sie sich eigentümlich verlassen. Ach! Ach, wie lange
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