Sommernachtszauber
von seinen Träumen oder seinen Hoffnungen wussten und ihn auch nie in irgendeiner Weise ermutigt haben. Marvin ist in geschäftlichen Dingen geradezu genial. Er ist ein talentierter und intelligenter Mann, der weder im Beruf noch zu Hause je die ihm gebührende Wertschätzung erfahren hat.«
»Entschuldigen Sie mal!« Joss fühlte sich nun aber doch veranlasst, sich zu verteidigen. »Wie können Sie so etwas sagen? Was geht Sie das überhaupt an? Ich war Marvin eine vorbildliche Frau und habe mich während unserer Ehe immer nach seinen Wünschen gerichtet, habe ihn nie gesellschaftlich blamiert, ihm nie widersprochen, nie meine eigenen Interessen in den Vordergrund gestellt, nie -«
»Ihn nie geliebt?« Annekas Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln darstellen sollte. »Nie der Stimme seines Herzens gelauscht? Nie seine Träume geteilt?«
»Ich verbitte es mir, hier meine intime Beziehung zu meinem Ehemann zur Diskussion zu stellen! Außerdem hatte er kein Herz und hätte auch nie irgendwelche Träume mit mir teilen wollen! Hören Sie, Anneka, sicher kennen Sie eine Seite von Marvin sehr gut, aber das ist die berufliche Seite. Über unser Privatleben wissen Sie nur die Einzelheiten, die er ausgewählt hat, um sie Ihnen zu erzählen. Sie wissen doch gar nicht, was für ein Mensch er in Wirklichkeit ist. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich um ihn gekümmert haben, als er unglücklich und verwirrt war, aber -«
Anneka zuckte die breiten Schultern. »Marvin meinte, Sie seien nur ein Schatten«, sagte sie. »Ein Mensch, in dem kein Funke glüht. Da lag er offenbar falsch. Das stimmt nicht. Lieben Sie ihn, Mrs Benson?«
»Er ist mein Ehemann.«
»Aber lieben Sie ihn?«
»Ich bin nicht bereit, das mit Ihnen zu erörtern. Dazu werden Sie mich ja wohl kaum herbestellt haben.« Joss schob den skelettartigen Stuhl zurück. »Ich will jetzt mit Marvin sprechen. Ich will wissen, wie es ihm geht.«
»Bestens – die Balkontüren befinden sich an der Rückwand des Wohnzimmers.« Anneka rührte sich nicht. »Ich halte mich zurück.«
»Ja«, sagte Joss und verließ die Küche, »tun Sie das.«
Die doppelt verglasten Balkontüren standen offen, und Marvin, der erstaunlich fit und entspannt wirkte, saß in beigefarbenen Chinos und einem dunkelroten Polohemd – Kleidungsstücke, die Joss noch nie zuvor an ihm gesehen hatte – in einem hochmodernen Stuhl in der Sonne und las Zeitung. Auf dem Tisch neben ihm standen ein Glas, ein Krug Orangensaft und ein Teller voller Krümel. Hinter ihm erstreckte sich die Stadt im Dunst, so weit das Auge reichte.
»Hallo, Marvin, wie geht es dir?«
»Jocelyn …« Marvin faltete die Zeitung zusammen und blinzelte zu ihr empor. »Anneka sagte, dass sie dich angerufen hat. Ich hab ihr erklärt, das sei ein Fehler, aber – guter Gott!«
Joss, die wieder einen der Zigeunerröcke, dazu ein buntes Top und die Paillettensandalen trug, lächelte. »Das ist mein neuer Kleidungsstil, Secondhand-Hobo. Hübsch, nicht wahr?«
»Nein.« Marvin richtete sich im Lehnstuhl auf. »Für so einen Aufzug bist du viel zu alt, und deine Haare sehen ja fürchterlich aus. Ich wünschte, Anneka hätte sich nicht mit dir in Verbindung gesetzt, aber sie bestand darauf, dich wissen zu lassen, wo ich bin. Ich hab ihr gesagt, das würde dich einen Dreck interessieren.«
»Wie konntest du so etwas nur denken? Ich war außer mir und ganz krank vor Sorge! Ich habe die Polizei angerufen und die Krankenhäuser und all deine Freunde und überall nach dir gesucht und – wo zum Teufel warst du denn bloß?«
»Hier.«
»Wie? Die ganze Zeit?«
Marvin nickte.
»Du Mistkerl! Und ich hab Höllenqualen ausgestanden -«
»Setz dich, Jocelyn. Jetzt, wo du da bist, sollten wir einiges besprechen.«
»Allerdings.« Joss ließ sich auf einem gegenüberstehenden Stuhl nieder. »Ich finde, du bist mir eine Erklärung schuldig, meinst du nicht? Also sprich, Marvin. Ich bin ganz Ohr.«
Marvin erzählte seine Geschichte und sagte, er wisse wirklich nicht, was ihn plötzlich dazu getrieben hätte, den Bungalow, die Siedlung The Close und Bagley-cum-Russet unbedingt verlassen zu müssen.
»Es war, als hätte sich der ganze Wirrwarr in meinem Kopf auf einen Schlag geklärt.« Er sah Joss an. »Als sei ich bis zu diesem Augenblick ein anderer Mensch gewesen und hätte wie im Nebel und eigentlich nur halb gelebt – und dann stand mir auf einmal die Lösung vor Augen. Kristallklar. Ich habe nicht lange
Weitere Kostenlose Bücher