Sommernachtszauber
war es her, dass sie in Winterbrook nach Freddos Namensschild gesucht hatte! Wie lange war es her, dass sie geglaubt hatte, ihr Leben sei schon so gut wie vorbei – und sie dann hinter jener abblätternden grünen Tür in Winterbrook entdeckt hatte, dass dem ganz und gar nicht so war?
Sie klingelte bei »A. Lindstrom«. Niemand antwortete. Keine Lautsprecherstimme sagte, sie solle einen Knopf drücken oder hereinkommen oder sich gedulden oder sonst was. Joss stand abwartend auf der Schwelle, während die Sonne unangenehm heiß auf ihre Schultern brannte, und überlegte, ob sie noch etwas anderes unternehmen müsste, um sich zu diesem imposant aussehenden Gebäude Zutritt zu verschaffen.
Plötzlich ging die weiße Tür auf.
»Guten Morgen!« Joss holte ein Lächeln und ein wenig Selbstvertrauen hervor. »Entschuldigen Sie, vielleicht habe ich auf die falsche Klingel gedrückt. Ich möchte zu Anneka, Anneka Lindstrom.«
»Sie steht vor Ihnen.«
Joss wusste im ersten Moment gar nicht, was sie sagen sollte. Die untersetzte Frau mittleren Alters, die ihr die Tür aufhielt, sah mit ihrem grauen Dutt, der dicken Schildpattbrille, ungeschminkt und in einem ganz besonders vernünftigen Rock zu einem beige melierten Wollpullover aus wie eine Doppelgängerin des Film-Kindermädchens Mrs Doubtfire.
»Ach, äh …« Joss holte Luft. »Ich meine, hallo, nett, Sie kennen zu lernen. Ich bin Jocelyn Benson.«
»Mrs Benson.« Anneka streckte ihr eine sehr saubere, vierschrötige Hand entgegen. »Freut mich ebenfalls. Treten Sie bitte ein.«
Nach dem kurzen sachlichen Händedruck folgte Joss, noch immer bemüht, die wirkliche Anneka mit dem Bild aus ihrer Vorstellung in Einklang zu bringen, den stämmigen Beinen eine kurze Treppe glänzend weißer Stufen mit glänzendem Messinggeländer hinauf, durch eine große Eichentür und in eine kleine, quadratische Diele: weiß gestrichene Wände, Fußboden aus hellem Holz, ordentlich. Aufgeräumt – aber nicht so steril, wie sie es erwartet hätte.
»Hier entlang, Mrs Benson«, bat Anneka, und es klang fast, als bellte sie einen Befehl.
Das kommt der Sache schon näher, dachte Joss, als sie sich im Wohnzimmer umsah – alles in Schwarz und Weiß und wahnsinnig teuer, nichts lag irgendwo herum, keine Kissen, keinerlei Firlefanz. Düstere, rechtwinklige, einfarbige Einrichtungsgegenstände standen mit den Kanten parallel zu anderen düsteren, rechtwinkligen, einfarbigen Einrichtungsgegenständen.
Hercule Poirot wäre begeistert gewesen.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Mrs Benson? Tee? Kaffee?«
»Eine Tasse Tee wäre nett, vielen Dank. Äh, ist Marvin hier? Geht es ihm gut?«
»Jetzt geht es ihm sehr gut. Als er hier eintraf, benahm er sich sonderbar und war verwirrt, aber nun weiß er, was zu tun ist, und ist wieder ganz er selbst. Er sitzt auf dem Balkon und liest die Morgenzeitung«, sagte Anneka, noch immer, ohne zu lächeln. »Vielleicht sollten wir uns erst einmal unterhalten, Mrs Benson.«
»Joss bitte, und ja, natürlich.« Joss folgte Anneka in eine ebenso einschüchternde, wahnsinnig aufgeräumte Küche, ganz in Weiß, poliertem Chrom und schwarzem Granit gehalten, und merkte, dass sie die Begegnung mit ihrem Mann gerne noch hinauszögerte, indem sie sich mit dieser abschreckenden Frau unterhielt, die mit Marvin insgesamt wahrscheinlich mehr Zeit verbracht hatte als sie selbst.
Mit gnadenlos sachlicher Effizienz bereitete Anneka Tee in sachlichen weißen Porzellantassen.
Sie setzten sich an einen, wie Joss fand, grauenhaft scheußlichen schwarzen Chromtisch.
»Ihr Gatte«, sagte Anneka, »ist ein wahrhaft wunderbarer Mann. Ich möchte, dass Sie das wissen, Mrs Benson. Ich bewundere ihn schon seit vielen Jahren. Man hätte ihn nicht so schlecht behandeln dürfen.«
»Ich habe ihn nie schlecht behandelt!«
»Ich meine die Firma, Mrs Benson. Dort hat man ihn schändlich behandelt. Sie, scheint mir, haben ihn einfach nur falsch behandelt. Ich habe leider den Eindruck, dass Sie Marvin überhaupt nicht richtig kennen.«
»Wie bitte?« Joss fühlte sich auf den nicht vorhandenen Schlips getreten. Sie nippte an ihrem Tee – schwarz und viel zu heiß – und setzte die Tasse rasch wieder ab. »Ich bin seit über dreißig Jahren mit ihm verheiratet, habe ihm zwei Kinder geschenkt und ihm immer zur Seite gestanden -«
»Das meine ich nicht.« Ohne mit der Wimper zu zucken, trank Anneka einen Schluck kochend heißen Tees. »Ich meine, dass Sie offenbar nichts
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