Sommernachtszauber
nachgedacht, was ich empfinde oder warum, ich wusste einfach instinktiv, was ich zu tun hatte.«
»Und das war, von zu Hause fortzugehen und hierherzukommen? Zu Anneka?«
»Ja. Entschuldige. Nicht dass ich hierherkam, aber ich sollte mich wohl dafür entschuldigen, dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe. Du hattest dich so sehr verändert, seit ich meinen Job los war … ich hatte das Gefühl, du würdest wahrscheinlich kaum merken, dass ich weg bin. Tut mir leid.«
»Hör auf, dich zu entschuldigen«, sagte Joss. »Das hast du sonst auch nie für nötig gehalten – und jetzt ist es dafür viel zu spät. Aber ich habe sehr wohl gemerkt, dass du fort warst, und habe mir große Sorgen gemacht. Verzweifelt habe ich versucht, dich zu finden, aber von diesem kleinen, äh, romantischen Unterschlupf konnte ich ja nichts wissen.«
Marvin zuckte zusammen. »So war das nicht, Jocelyn. Das war nicht der Grund, warum ich herkam. Ich bin dir nie untreu gewesen.«
»Soll das heißen, das alles und Anneka«, Joss machte eine ausladende Handbewegung, »wäre rein geschäftlich?«
Marvin schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt nicht mehr. Jetzt ist es sehr viel mehr als das, aber als ich ankam, war mir das nicht bewusst. Ich wusste nur, dass ich hierhermusste, dass Anneka der Mensch war, bei dem ich sein wollte, der Mensch, der mich verstand und nachfühlen konnte, was in mir vorging. Dass sie der einzige Mensch auf der Welt war, der mir etwas bedeutete und mit dem ein weiteres Leben für mich lebenswert wäre. Es tut mir leid, Jocelyn. Eine andere Erklärung habe ich nicht, aber ich empfinde auch keine Reue.«
Joss blickte über die Dächer, wo sich die Sonne über den Ziegeln und Schieferplatten in einen Schal gelben Dunstes hüllte. Das war ja doch wohl mehr als sonderbar! Marvin fühlte sich von dieser untersetzten, einschüchternden, besserwisserischen, unweiblichen Frau mehr angezogen als von ihr? Sollte sie gekränkt sein? Oder gar verletzt? Joss prüfte ihre Gefühle und stellte fest, dass sie im Grunde einfach nur Erleichterung verspürte.
Sie sah Marvin wieder an. »Hast du dich deshalb so grauenhaft benommen? Ich meine, noch schlimmer als sonst, seit deiner Entlassung? All diese Gehässigkeiten und das Genörgel und die schrecklichen Fernsehsendungen – weil du dich nach Anneka verzehrt hast?«
Marvin seufzte. »Mag sein, ja, vielleicht. Wahrscheinlich. Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich mich wieder wie ein Mensch fühle, seit ich hier bin – und dass ich glücklich bin, wahrhaft glücklich.«
»Wie schön für dich!«
»Jocelyn, ich weiß, dass dich das verletzt, aber lass mich versuchen, es dir zu erklären. Als ich meine Stelle verlor, war ich gekränkt und verwirrt und hatte Angst. Ich hatte Angst. Immer hatte ich alles in meinem Leben unter Kontrolle gehabt, und auf einmal war alles futsch. Und du – du fingst an, mir zu widersprechen, dich gegen mich aufzulehnen, und wolltest aus lauter Mitleid sogar die Brötchen verdienen, und auf einmal hatte ich nicht einmal mehr dich unter Kontrolle.«
Einen Moment lang saßen sie da und starrten einander schweigend an.
Joss zog mit der Fußspitze das Muster der Bodenfliesen nach. Die Pailletten tanzten in der Sonne. »An dem Tag, als du fort bist – hast du da an meinen Badeölen gerochen?«
»Was?«
»Die Badezusätze, die du in der Tasche meines Morgenmantels gefunden hast. Sukie Ambrose hat mir später erzählt, dass sie, äh, eine seltsame Wirkung haben könnten. Sie wusste nicht, dass du sie eingeatmet hast, aber ich dachte es mir und -«
»Quatsch mit Soße, Jocelyn! Was redest du denn da für einen Unsinn?!«
»Hast du an meinen Badeölen gerochen oder nicht? Nachdem ich zu dem Vorstellungsgespräch gegangen war? Bestimmt hast du herumgeschnüffelt, weil das Bad am Mittag von der üblichen Routine abwich – und dann hast du diese kleinen Fläschchen gefunden und sie geöffnet und -«
»Ich kann mich nicht erinnern. Schon möglich – keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur, dass ich bis zu diesem Punkt nur halb gelebt habe und dass du mich allein gelassen hast – du hast gesagt, du würdest dir einen Job suchen – und dann, ja, ich habe diese blöden kleinen Duftfläschchen gefunden … und auf einmal war ich innerlich frei und wusste, was ich wollte.«
Joss sah ihn an. Das war also der Mann, mit dem sie fast ihr ganzes Erwachsenenleben verbracht und neben dem sie geschlafen hatte – der Mann, den sie nicht nur nicht
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