Sommernachtszauber
liebte, sondern den sie nun nicht einmal mehr sonderlich sympathisch fand.
»Wie schön, Marvin. Es freut mich, dass du zu dir selbst gefunden hast, wie auch immer das zugegangen ist. Den meisten Menschen gelingt das nie. Ich sollte den Bungalow dann wohl zum Verkauf anbieten, oder?«
»Was?« Marvin fuhr ruckartig hoch. »Soll das heißen, du bist nicht gekommen, um mich zur Rückkehr zu bewegen?«
»Nein! Warum sollte ich?« Joss spürte, wie innere Stärke durch ihre Adern rauschte. »Du bist nicht der Einzige, der noch ein Leben vor sich hat, Marvin. Trotz all dem, was du mir im Lauf der Jahre angetan hast, habe ich eine Stelle gefunden – eine wirklich gute Stelle als Pressereferentin und Sekretärin – und nun werde ich mir eine günstige Mietwohnung suchen oder so.« Sie beugte sich vor. »Außerdem bin ich gestern Abend mit meinem neuen Chef in einem pinkfarbenen Cadillac durch Bagley gefahren und habe Cancan getanzt!«
»Wer leidet jetzt hier unter Wahnvorstellungen?« Marvin schaltete in eine gemäßigte Variante des roten Kopfes mit den pulsierenden Schläfenadern. »Erzähl nicht solche Lügen, Jocelyn. Das ist weder angebracht noch notwendig.«
»Ich erzähle keine Lügen. Gestern Abend habe ich entdeckt, was mir entgangen ist. Und ich habe jede Minute ohne dich in vollen Zügen genossen. Es war, wie wenn man nach einer sehr langen Haftstrafe aus dem Gefängnis freikommt.«
»Jocelyn …« Marvins Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ich hätte doch etwas anderes von dir erwartet -«
»Ach? Wieso? Hast du geglaubt, ich wäre nach wie vor dein Opfer? Marvin, ich hätte das schon vor vielen Jahren sagen und tun sollen. Du hast mich während unseres gesamten Ehelebens tyrannisiert – und dafür gesorgt, dass ich mich elend und schuldig und unglücklich fühlte. Aber jetzt, da ich weiß, dass du versorgt und wohlauf bist, werde ich in Freuden künftig ohne dich leben, und zwar wirklich leben.«
Marvin schluckte, wandte den Kopf ab und starrte über die Dächer.
O Gott. Er weinte doch nicht etwa?
»Marvin …?«
»Du!« Er fuhr herum. »Du hast mir die verdammte Schau gestohlen! Wie kannst du es wagen, so mit mir umzuspringen, Jocelyn? Ich war es, der dich verlassen hat! Ich hatte vor, dir zu sagen, dass alles aus ist – wie kannst du es wagen – wie? Jocelyn? Verdammt noch mal, du lachst doch nicht etwa – über mich?«
»Doch, tut mir leid«, kicherte Joss. »Nicht gerade schicklich, wie? Aber es ist genau der passende Moment dafür. Meine Sternstunde! Diese Szene hätte ich zu gerne auf Video. Also, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, der Bungalow – und wie wäre es mit Scheidung, wo wir gerade beim Thema sind?«
Drei Stunden später, als sich der Zug nach Reading ratternd von London entfernte, lehnte sich Joss in ihrem Sitz zurück und lächelte. Alles war viel besser gelaufen, als sie jemals zu träumen gewagt hätte.
Anneka war auf den Balkon gerufen worden und hatte, wahrscheinlich durch jahrelange Sekretärinnenfürsorglichkeit geübt, für frisch gepressten Orangensaft und warme Croissants mit Kirschmarmelade gesorgt, und Marvin hatte – höchst ungewohnt – »bitte« und »danke« gesagt, und die beiden hatten einander beinahe schmalztriefend angelächelt. Joss hatte sie beobachtet, dabei aber keine Eifersucht empfunden, sondern nur leise Wehmut, dass sie alle so viel Zeit vergeudet hatten, um herauszufinden, was sie wirklich wollten.
Dann hatte Marvin gesagt, sie solle ruhig im Bungalow bleiben. Er käme vorbei, um seine restlichen Sachen abzuholen, und er hätte schon Pläne entworfen, um eine Hypothek aufzunehmen, die ihnen beiden ein gewisses Startkapital verschaffte: Joss, um davon zu leben, und ihm, um mit Anneka zusammen eine Headhunter-Firma zu gründen.
Joss hatte allem zugestimmt, denn es gab keinen Grund, dies nicht zu tun, und hatte sich bereiterklärt, jede Unterschrift zu leisten, mit jedem Anwalt zu sprechen und alle erforderlichen Schritte einzuleiten, um ihre Ehe in sämtlichen Belangen zu einem Ende zu bringen – das Wort Abschluss wollte sie nicht verwenden, denn das war einer von Marvins Lieblingsausdrücken -, sofern Marvin es übernahm, die Kinder zu informieren.
Von Annekas Telefon aus hatte sie dann Valerie angerufen, ihr kurz berichtet, was sich zugetragen hatte, und sie gebeten, falls irgend möglich, jemanden aufzutreiben, der sie in Reading vom Bahnhof abholen könnte, damit sie nicht auf den spätabendlichen Bus nach Bagley warten
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