Sommernachtszauber
zu ziehen, schaute über den Zaun zu Val und antwortete mit gedämpfter Stimme: »Ach Val – ich wollte schon längst mal rüberkommen und fragen, wie es mit deinem Bein geht und wie die Dinge sonst so stehen, aber -«, sie warf einen sorgenvollen Blick über die Schulter in Richtung Bungalow, »Marvin ist jeden Tag rund um die Uhr hier. Es ist sehr schwierig.«
»Ist er krank?«, lachte Valerie. »Hoffentlich was Ernstes? Ich hab schon gemerkt, dass sein Auto in der Einfahrt steht, hab gedacht, er hat vielleicht Urlaub. Mit meinem Bein ist alles bestens, dank Sukie. Zum Cancan-Tanzen reicht es noch nicht wieder, aber ich kann in der Arbeit stundenlang stehen, ohne dass mir was wehtut.«
»Wie schön. Es freut mich, dass es dir wieder besser geht.«
»Mich auch, aber was ist denn mit dir los? Du siehst fürchterlich aus, wenn ich das mal so sagen darf. Geht’s dir nicht gut?«
»Nein.« Joss schüttelte den Kopf und hatte das Gefühl, sie müsste gleich weinen. »Und ich glaub nicht, dass es mir je wieder gut gehen wird.«
»Jocelyn!«, dröhnte Marvins Stimme aus dem Inneren des Bungalows. »Was machst du da draußen? Du brauchst ja ewig mit dem Müll!«
Valerie gluckste. »Er hat mich wohl gesehen, der Gute. Schau mal, Liebes, ich weiß ja, dass du nicht rüberkommen kannst, wenn er dich hinter Schloss und Riegel hält. Aber er wird dich doch sicher nicht davon abhalten, mal ein paar Schritte zu Coddles zu gehen? Um einen Brief aufzugeben oder Zucker zu kaufen oder so was. Wollen wir uns in zehn Minuten dort treffen?«
»Okay.« Joss nickte. »In zehn Minuten. Danke.«
Kraftlos trottete sie in den Bungalow zurück.
Gut möglich, dass ich im Gefängnis lande, dachte Joss, wenn ich noch einen weiteren Tag rund um die Uhr mit Marvin im Haus verbringen muss. Schlimmer als sein schwelender Zorn war sein selbstmitleidiges Gejammer über die furchtbare Ungerechtigkeit. Es schien Ewigkeiten zurückzuliegen, dass sie wie neugeboren von der Massage nach Hause gekommen war, voller Elan und mit diesem prickelnden Gefühl im Körper. War das wirklich erst zwei Wochen her? Es hätten auch zwei Jahre sein können.
»Was machst du eigentlich?« Marvin blickte aus dem Sessel vor dem Fernseher auf. »Es ist schon fast zehn Uhr, und du hast noch nicht mal das Frühstück abgeräumt.«
»Das könntest du doch auch machen.«
»Was?« Marvin knirschte mit den Zähnen. »Frauenarbeit? Wohl kaum. Das ist unter meiner Würde. Warum ziehst du andere Schuhe an? Du gehst doch nicht etwa fort?«
»Nur mal eben zu Coddles . Wir haben keinen, äh, Tee mehr.«
»Ich mag deren Tee nicht. Billiger Mist.«
»Sie haben auch Markenprodukte.«
»Die wir uns nicht leisten können.« Marvin löste erneut den Blick vom Fernseher. »Du denkst auch immer nur ans Geldausgeben, was? Bist du zu blöd, um zu kapieren, dass wir jetzt jeden Penny umdrehen müssen?«
Ohne ihn zu beachten, richtete Joss vor dem Spiegel ihr Haar und stöhnte innerlich. Valerie hatte recht, sie sah wirklich fürchterlich aus: ausgelaugt, eingefallen, niedergeschlagen, alt. Sie griff nach ihrer Handtasche. »Dauert nicht lange. Willst du sonst noch was?«
»Nichts, was wir uns leisten könnten«, fauchte Marvin und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne des Sessels. »Und vergiss nicht, dass du kein Taschengeld mehr bekommst, kauf dir also keinen albernen Firlefanz wie Haarshampoo oder Schaumbäder. Stattdessen kannst du auch Spülmittel verwenden.«
Joss holte tief Luft und stieß einen lautlosen Schrei aus.
Marvin setzte das nervtötende Fingertrommeln fort. »Bleib nicht zu lange weg – und bring mir die Quittung für den Tee. Ich will nicht, dass du zu viel Geld ausgibst. Und nimm nicht das Auto.«
»Hatte ich auch nicht vor. Bis später.«
Marvin grunzte, den Blick bereits wieder auf eine Sendung über Küstenerosion in irgendeinem Dritte-Welt-Land gerichtet.
Joss trat hinaus in The Close und war ganz geblendet von dem strahlenden Sonnenschein, der aber weder ihren Körper wärmte, noch ihre Stimmung hob. Sie hatte chronische Kopfschmerzen, und die Angst lag ihr wie ein Stein im Magen. Ach, womit hatte sie das nur verdient? Sollte sie in einem früheren Leben wirklich so etwas Schlimmes getan haben? Immerhin wäre es eine große Erleichterung, sich bei Valerie auszuweinen. Noch nie hatte sie eine Freundin so dringend gebraucht wie jetzt.
Jeder Schritt fort von dem Bungalow, durch die von Hecken gesäumten und süß duftenden Straßen auf Coddles zu,
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