Sommernachtszauber
war wie ein herrlicher Schritt in die Freiheit. Joss war wie auf Autopilot gestellt. Wenn sie doch einfach immer nur so weitergehen könnte …
Val wartete vor Coddles und saß auf der Bank in der Sonne. »Ich hab uns süße Teilchen gekauft«, sagte sie und grinste zu Joss empor. »Du hast so ausgesehen, als könntest du eine Dosis Zucker brauchen. Na komm, Süße, ist doch nur ein Stück Kuchen … wein doch nicht …«
Joss wischte sich schniefend die Tränen ab, bedankte sich, quetschte sich neben Val auf die Bank und seufzte schließlich.
»Erzähl’s mir, wenn du magst«, sagte Val entgegenkommend, »oder lass es, wenn du nicht drüber reden willst.«
Joss saß eine Weile schweigend da, aß ihr süßes Teilchen, ohne wirklich etwas zu schmecken, und hatte nur den flüchtigen Gedanken, dass Marvin einen purpurroten Wutanfall bekäme, wenn er wüsste, dass sie in der Öffentlichkeit aß. Sie beobachtete, wie die Bewohner von Bagley im Laden ein und aus gingen, und es kam ihr vor, als sähe sie einen Film. Es war alles ganz unwirklich. Doch in der Sonne wurde ihr allmählich wärmer, und die Farben – das leuchtend helle Grün der Blütenknospen, die aus den Linden über ihnen ans Licht strebten, das Lila und Gelb und Rot der Frühlingsblumen in den Bottichen vor dem Laden – all dies durchdrang allmählich den graubraunen Nebel ihrer Gedanken.
»Marvin ist seinen Job los.« Joss wischte sich die Zuckerkrümel vom Mund und sah Val schließlich an. »Er nimmt es sehr schwer.«
»Ach, Süße.« Valerie tätschelte Joss die Hand. »So ein Mist. Ich weiß, wie das ist – mein Alter wird geheuert und gefeuert wie ein Jo-Jo. Aber ich dachte, dein Marv sei irgend so ein hohes Tier und so gut wie unantastbar? Er findet sicher bald eine andere Stelle. So alt ist er ja noch nicht … Also, was war los?«
Joss hob das Gesicht der Sonne entgegen und atmete tief ein. »Willst du das wirklich hören?«
»Was ich will, ist unwichtig.« Val rutschte ihren dicken Hintern auf der Bank etwas bequemer zurecht. »Aber ich finde, du solltest darüber reden, Liebes. Ich bin ganz Ohr. Muss erst in einer guten Stunde bei der Arbeit sein. Also, lass hören.«
»Tja.« Joss seufzte. »Es war an dem Tag, als wir bei der Massage waren. Du hattest recht gehabt – es war wirklich Marvin, der uns da fast gerammt hätte. Und als ich nach Hause kam …«
Nun begann Joss, die ganze traurige Geschichte zu erzählen. Nur ihren halbherzigen Versuch, Marvin zu verführen, ließ sie aus. Davon zu berichten, hätte sie als zu beschämend und erniedrigend empfunden. Dabei erlebte sie in Gedanken alles noch einmal, wie bei einer Horrorversion von Und täglich grüßt das Murmeltier .
Trotz Marvins erstem Ausbruch, man habe ihn gefeuert, sah die Wirklichkeit ein wenig anders aus.
»Ich bin überflüssig! Werde nicht länger gebraucht! Beschissen nutzlos! Der Laden ist verkauft worden!«, hatte er gewütet. »Die ganze Firma, alle Abteilungen, alle Filialen! Verkauft. Eine echte Nacht-und-Nebel-Aktion. Es hat ja schon lange Gerüchte über ausländische Interessenten und mögliche Fremdinvestoren gegeben, aber es hieß, es würde nur Geld investiert, um nach Übersee zu expandieren – und nicht so etwas, verdammt noch mal!«
Es war durchgesickert, dass ein asiatisches Konglomerat für die Übernahme verantwortlich war. Daraufhin schwor Marvin, nie wieder Curryessen zu gehen. Joss war insgeheim erleichtert, dass die neuen Firmeninhaber nicht aus Skandinavien stammten: Sonst hätte Marvin wahrscheinlich das gesamte IKEA-Mobiliar aus dem Bungalow geworfen und auf der Straße in Brand gesetzt.
»Aber«, hatte Joss gefragt, um Verständnis der Hintergründe bemüht, »hast du denn nicht irgendetwas geahnt?«
»Wenn ich irgendeine verdammte Ahnung gehabt hätte«, hatte Marvin geknurrt, »dann hätte ich doch verdammt noch mal etwas unternommen. Was glaubst denn du? Alles, was ich heute Morgen zu hören bekam, war: ›Ihre Stelle wird im Rahmen der Umstrukturierung abgebaut, danke für die vielen Jahre harter Arbeit, aber jetzt brauchen wir Sie nicht mehr, räumen Sie Ihren verdammten Schreibtisch leer, und dann können Sie sich verdammt noch mal verpissen!‹«
Joss hatte bestürzt die Hände zusammengeschlagen und war ans Fenster getreten. Sie hätte Marvin gern getröstet oder etwas Hilfreiches und Aufmunterndes gesagt, aber sie kannte nur noch den einen Gedanken, nämlich dass er jetzt zu Hause bliebe, und zwar immer. So wie an diesen
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