Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Stille zu verstecken. Der Sinn dahinter mag gewesen sein, dass sie nicht zueinander finden. Tatsächlich hat es jedoch alles nichts genützt. Schatten sind überaus schnell. Von Zeit zu Zeit fällt meinen Leuten noch nicht einmal auf, dass sie da gewesen waren. Und das soll schon etwas heißen. Denn einem Percht, musst du wissen, entgeht für gewöhnlich nichts.“
„Und Ihr sagt, dass ihr bis zum heutigen Tage keiner Schattenfrau ihrer Identität überführen konntet?“, fragte Arrow betrübt und dachte dabei an Sally. „Einen Namen kann ich Euch nennen.“
„Du kannst mir Tausende von Namen nennen“, entgegnete Perchta und schlug die Augen nieder. „Es würde ohnehin nichts nützen. Denn selbst, wenn die Wilde Jagd zu Beginn der Raunächte wieder auszieht, wird es zu spät sein, da die Schatten dieses Volkes nur in einer einzigen Nacht des Jahres angreifbar sind. Es ist die Zeit, da die Lichtwesen dieser Welt einen Besuch abstatten, um nach dem Rechten zu sehen. In ihrem Schein werden die Schatten physisch angreifbar und träge. Man kann sie praktisch in jedem Versteck aufstöbern, gleichgültig, wie gut es getarnt sein mag. Bedauerlicherweise zählt diese Nacht jedoch nicht zu jenen, in denen es mir oder meinen Leuten gestattet ist, diesen Wald zu verlassen.“
„Von welcher Nacht sprecht Ihr?“, fragte Arrow erwartungsvoll.
„Von der Sommersonnenwende.“
„Aber das ist heute“, erwiderte sie blitzartig und nahm dabei kaum wahr, wie jemand an ihrem Mantel zupfte.
„Arrow!“, rief Emily stirnrunzelnd, als diese abwesend an sich hinuntersah. „Warum begrüßt du mich denn nicht?“
„Hallo Emily“, entgegnete sie mit erhellter Miene und hockte sich zu dem Mädchen hin. „Es tut mir leid. Ich war gerade so in meine Gedanken vertieft, dass ich deine Anwesenheit nicht bemerkt habe.“
„Oh, zum Glück“, erwiderte sie erleichtert. „Ich hatte schon befürchtet, unsichtbar geworden zu sein.“
„Unsichtbar? Wie kommst du denn auf die Idee?“
„Keine Ahnung. In letzter Zeit stelle ich mir andauernd vor, dass mich niemand mehr hören oder sehen kann. Keiner nimmt mich in irgendeiner Art und Weise wahr und ich muss mich ganz allein mit meinen Ängsten auseinandersetzen.“
Arrow schloss Emily in ihre Arme und flüsterte beruhigend: „Nein, du musst keine Angst haben, denn du bist alles andere als unsichtbar. Und ich werde auch immer ein Ohr für all deine Befürchtungen haben.“
„Ich habe gehört, dass ihr euch über die Lichtwesen unterhalten habt“, sagte sie begeistert, als sie sich aus der Umarmung löste. „Früher, als meine Großmutter noch gelebt hat, haben wir immer zusammen am Fenster gesessen und manchmal die ganze Nacht nach ihnen Ausschau gehalten. Sie sind wunderschön und alles fühlt sich so anders an, wenn sie da sind. Es ist die einzige Nacht des Jahres, in der ich all meine Sorgen und Ängste vollkommen vergesse. Bedauerlicherweise suchen sie den Holunderwald nicht auf und sie kommen auch nicht mehr in so großer Zahl, weil das Wetter schon lange nicht mehr so schön ist wie früher. Aber manchmal, wenn man an der Waldgrenze steht und Glück hat, sieht man sie vorbeifliegen. Es ist zauberhaft.“
„So klingt es auch“, entgegnete Arrow lächelnd. „Und die Menge der Besucher hängt tatsächlich vom Wetter ab?“
„Ja, ich habe mal gehört, dass die Lichtwesen laue Sommernächte lieben. Wenn die Bedingungen stimmen, kommen manchmal sogar so viele, dass es taghell wird, und sie bleiben dann auch bis zum Sonnenaufgang. In verregneten, stürmischen oder gar kalten Nächten hingegen trauen sich nur sehr wenige hierher. Sie prüfen eilig, in welchem Zustand sich die Welt befindet, die sie einst erschaffen haben und ziehen dann weiter. Da bei uns so viele Jahre immer nur Winter war, habe ich das richtig große Spektakel leider nie gesehen. Das letzte Mal ist es lange vor meiner Zeit geschehen. Aber schon allein die Wenigen beobachten zu dürfen ist so zauberhaft, dass es in den lauen Nächten ganz sicher atemberaubend ist.“
Arrow warf Perchta einen Blick zu, der mehr aussagte, als tausend Worte es vermocht hätten. Und als die Herrscherin des Holunderwaldes mit einem flüchtigen Lächeln ihr Einverständnis bekundete, sah sie wieder zu dem Mädchen.
„Sag mal, Emily, was würdest du davon halten, wenn ich dir erzählte, dass ich imstande bin, das Wetter genau so zu gestalten, dass die Lichtwesen in einer Anzahl kommen werden, wie du es noch nie zuvor gesehen
Weitere Kostenlose Bücher