Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
Feuerchen.
Sobald Arrow in dem Boot Platz genommen hatte, legte es ab und fuhr langsam über den See auf die andere Seite. Neugierig warf sie einen Blick in das Wasser. Es schien an keinem Punkt besonders tief zu sein, denn der leuchtend weiße Schneegrund war überall deutlich zu erkennen. Leben gab es in ihm offenbar nicht, weder tierischen noch pflanzlichen Ursprungs. Die Farbe des Wassers erinnerte sie an das der verzauberten Wiesen, in dem sie erst wenige Monate zuvor mit Keylam gebadet hatte. Immer wenn sie daran dachte, spürte sie noch den herrlich warmen Frühlingswind in ihren Haaren und die erfrischende Gischt in ihrem Gesicht. Sie fragte sich, ob dieses Wasser hier wohl genauso schmeckte, doch als sie ihre Hand danach ausstreckte, kam die Libelle herbei geflogen und biss ihr in den Finger. Arrow erschrak. Für ein Wesen, das kaum größer war, als der Handrücken ihres Kindes, hatte sie ziemlich viel Kraft. Und auch die Botschaft war unmissverständlich – das Wasser zu berühren, war strengstens verboten.
Als das Boot die andere Seite erreichte, führte ein Tunnel in das Eislabyrinth. Die Libelle bog jedoch nirgendwo ab, sondern flog immer geradeaus. Arrow folgte ihr, bis sie sich schließlich in einer Sackgasse wiederfand, an deren Wand ein aus Eis erschaffener Wolfskopf herausragte, in dessen Maul das winzige Insekt verschwand.
Arrow zog ihren Handschuh aus und hielt ihre Hand unter die Öffnung, wo sie eindeutig einen schwachen Luftzug spürte. Schnell wurde ihr klar, dass sie diesem Pfad nur in einer einzigen Form folgen konnte und jetzt ergab es auch einen Sinn, warum sie allein reisen sollte. Zwar hatte sie bereits des Öfteren versucht, jemanden, den sie bei sich hatte, mit in ihre Verwandlung einzubeziehen, wie sich jedoch gezeigt hat, funktionierte das leider nicht jedes Mal. Die Gründe dafür waren nicht bekannt. Vermutlich fehlte es ihr an Übung. Da es jedoch immer wieder Smitt gewesen war, den sie aus mehreren Metern Höhe plötzlich und ganz unverhofft fallen gelassen hatte, hielt sich der bisher entstandene Schaden in Grenzen. Zwerge waren ja, wie allgemein bekannt, äußerst robust. Und manchmal kam es ihr so vor, als wäre Smitt mit seinem vorlauten Mundwerk von dieser Regel doppelt betroffen.
Mit einem Schwung verwandelte sie sich in einen Windschub und folgte dem Boten. Schnell ging der eisige, armdicke Tunnel in einen dunklen aus grauem Felsgestein über und es dauerte eine ganze Weile, bis sie schließlich die Oberfläche erreichte. Dort angekommen, peitschten ihr sofort die vom Sturm umher wirbelnden Schneeflocken ins Gesicht. Eilig zog sie die Kapuze ihres Mantels tiefer und den Schal höher ins Gesicht, so dass lediglich ihre Augen noch unbedeckt waren. Die erbarmungslose Kälte biss so stark, dass sie am liebsten geschrien hätte.
Obwohl sie kaum die Hand vor Augen erkannte, versuchte sie, sich zu orientieren. Und als sie bemerkte, dass es so keinen Sinn hatte, entnahm sie aus ihrer Tasche ein Titanglas mit Irrlichtern, welches Neve für sie nach ihrer Rückkehr aus der Unterwelt angefertigt hatte. Eines der frechen Biester vergeudete auch keine Zeit und nutzte die Gelegenheit, Arrow sein nacktes Hinterteil entgegen zu strecken. Doch diese Art der Provokation beeindruckte sie schon lange nicht mehr. Da war sie von den Irrlichtern ihres alten Glases ganz andere Dinge gewohnt.
Abermals versuchte sie, die Berge um sich herum zu erkennen, doch auch der Schein der Lichter half ihr bei diesem tobenden Sturm nicht weiter, denn er erweiterte die Sicht auf gerade mal einen Meter. Nachdenklich legte sie das Glas wieder in ihre Tasche zurück und überlegte. Vor ihrer Abreise war Smitt mit ihr wiederholt die Gipfel des Gebirges durchgegangen, damit sie sich nicht verirrte. Nun hatte sie lediglich eine Ahnung, wo sie sich befinden könnte. Einen Moment lang zögerte sie. Was, wenn sie sich in die falsche Richtung bewegte und die Banshees sie nicht fänden? Dann wäre sie verloren, denn den Weg zurück würde sie unter diesen Umständen niemals erspähen.
Als sie sich ein weiteres Mal verunsichert umschaute, war ihr Mut bereits im Begriff, sie zu verlassen. Dennoch setzte sie zum Sprung an und verwandelte sich. Sobald sie wieder festen Boden unter ihren Füßen spürte, holte sie noch einmal das Titanglas hervor. Von jetzt an konnte sie nur noch hoffen und warten. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie sich an der richtigen Stelle, auf dem zweithöchsten Gipfel des sechstniedrigsten Berges,
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