Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
leuchten.
Behutsam nahm sie ihr Baby an sich und betrachtete das Schmuckstück. Erst jetzt fiel ihr auf, wie schön es im Grunde war. Der Stein war in zarte Golddrähte eingefasst, die das Gesicht einer schlafenden Frau formten. Doch noch während Arrow ihn betrachtete, öffnete sie plötzlich ihre Augen und erwachte zum Leben. Ein mehr als faszinierender Anblick.
Der Abend kam überraschend schnell. Als Arrow sich von ihrem Sohn verabschiedete, schlummerte dieser bereits tief und fest in Annes Armen. Ein Segen, denn früher am Tag war er über Stunden quengelig gewesen.
Keylam war auffällig ruhig an jenem Tag. Oft wirkte er so nachdenklich, als befände er sich an einem fernen Ort. Kaum jemand vermochte zu sagen, ob er dabei gerade in den Erinnerungen längst vergangener Tage schwelgte, oder einer sorgenvollen Zukunft entgegenblickte. Doch Arrow kannte ihn nur zu gut und wusste genau, welche Gedanken durch seinen Kopf geisterten. Sanft umklammerte sie von hinten seine Hand und legte ihren Kopf auf seine Schulter.
„Mir wird nichts passieren. Das verspreche ich dir.“
Keylam vernahm die Worte, doch sie vermochten nicht, ihn zu trösten. Irgendetwas Schreckliches würde bald passieren. Die glücklichen Tage an der Seite seiner Frau waren bald gezählt – das fühlte er schon lange, und im Untergrund ahnte niemand, welch einen tosenden Schneesturm er damit an der Oberfläche auslöste.
Als die Uhr schließlich jene Zeit anzeigte, zu der die Nacht hereinbrach, nahm Anne ihre Enkeltochter noch ein letztes Mal zur Seite.
„Bevor du dich auf den Weg machst, gibt es noch einige Dinge, die du in Bezug auf die Banshees wissen musst. Für das normale Auge sind sie nicht sichtbar. Allein die Wahnsinnigen, die Toten und solche, deren letzte Stunde bereits geschlagen hat, wissen um ihr Aussehen. Du musst auf ihre Spuren im Schnee achten. Sie hinterlassen die gleichen Abdrücke, wie die scharrenden Füße eines unruhigen Huhnes. Sobald du ihre Anwesenheit bemerkst, wird es dir vorkommen, als hättest du von allem je Dagewesenen die dunkelste Phase in deinem Leben erreicht. Vieles wird dir sinnlos erscheinen und den Wunsch erwecken, dir das Amulett vom Hals zu reißen, um deinem Dasein ein Ende zu bereiten.“ Dann umklammerte sie Arrows Arm festen Griffes. „Doch ich beschwöre dich bei allem, was dir heilig ist, dass du unter gar keinen Umständen den Weg deines Vaters beschreiten darfst.“
„Aber natürlich tue ich das“, gab Arrow stirnrunzelnd zurück. „Genau wie er kämpfe ich für eine bessere Welt und werde mein Kind mit so viel Liebe erziehen, dass das ihm eines Tages die Kraft geben wird, diesen Kampf an meiner Stelle fortzuführen.“
Anne schüttelte den Kopf und als sie ihrer Enkeltochter wieder in die Augen sah, war ihr Blick so flehend, als würden sie sich in diesem Moment zum letzten Mal sprechen.
„Du weißt genau, dass nicht von seinem Lebensweg die Rede war, sondern von jenem Weg, den er für sich gewählt hat, um dir diese Aufgabe zu überlassen.“
Arrow erschrak. Traute Anne ihr tatsächlich zu, dass sie sich das Leben nahm? Sich selbst gegenüber konnte sie nicht abstreiten, einst mit diesem Gedanken gespielt zu haben, doch mittlerweile waren die Dinge anders. Mit der Geburt ihres Sohnes hatte sie wieder eine richtige, eigene Familie und noch dazu so viele wunderbare Vertraute um sich, dass sie, ganz egal wie viele Schlösser die Túatha Dé Danann zerstören und wie tief sie sie anschließend in den Untergrund treiben würden, mit ihnen überall zu Hause sein könnte. Ihre Seele war geheilt und es fühlte sich an, als könnte sie die ganze Welt aus den Angeln heben.
„Sorge dich nicht. Nichts auf der Welt kann mich dazu verleiten, mein Kind auf diese Weise im Stich zu lassen.“
Während Anne ihr noch immer in die Augen schaute, um in ihnen das Leuchten auszumachen, das diese Aussage bestätigte, vernahm Arrow plötzlich ein Flattern neben ihren Ohren. Eine winzig kleine Libelle, deren Körper im schwachen Schein der unzähligen gefrosteten Feuer so klar wie ein Eiszapfen schimmerte, umflog ihren Kopf.
„Es ist soweit“, bemerkte Anne mit schwerer Stimme. „Sie ist der Bote, von dem meine Schwester gesprochen hat.“
Die Libelle führte Arrow zu einem der Boote, die am Ufer des türkisfarbenen Sees lagen. Wie fast alles an diesem Ort bestand es aus purem Eis. Am Ende ragte ein Eisblock empor, der wie eine große Laterne geformt war. In ihm flackerten beruhigend wirkende
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