Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
„Die Zeiten, in denen er Angst und Schrecken verbreitet hat, sind lange vorbei. Kaum, dass ich einst meine Tochter aus den Händen gab, lehrte ich ihn das Fürchten. Anfangs hat es mir noch Genugtuung verschafft, ihn die gesamte Zeit seines erbärmlichen Daseins über zu foltern und zu quälen. Doch irgendwann ist auch dieses Gefühl, wie alle anderen, die ich in meinem Leben je gekannt habe, verblasst und zurück blieb nur die Sehnsucht nach meinem Kind. Es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt, als die Gewissheit, nie mehr sein eigen Fleisch und Blut in den Armen halten zu dürfen.“
Arrows Angst fiel von ihr ab. Von einem Moment zum nächsten hatte sie den Dämmerdämon, den Wald und alle anderen Kreaturen, die darin ihr Unwesen trieben, vergessen. Langsam ging sie auf Frau Perchta zu, umfasste ihre Hand und entgegnete: „Ich habe von Eurem Schicksal gehört und möchte Euch wissen lassen, dass ich in meinem Herzen bei Euch bin. Erst vor wenigen Monaten hat mein Sohn das Licht der Welt erblickt und allein der Gedanke daran, dass dieses Glück, das ich seither empfinde, eines Tages enden könnte, auf welche Weise auch immer, löst in mir eine Traurigkeit aus, wie ich sie nicht einmal bei meines Vaters Tod verspürt habe. Wenn ich also irgendwas für Euch tun kann, so lasst es mich bitte wissen. Denn so sehr wir uns auch voneinander unterscheiden – die Herzen in unserer Brust schlagen dennoch für die gleiche Sache.“
Perchta bemühte sich um ein Lächeln, doch es gelang ihr nicht. In Arrows Augen erkannte sie die Aufrichtigkeit, die hinter diesen Worten steckte und das allein half ihr, den tiefen Kummer, den sie Tag um Tag verspürte, für einen winzigen Augenblick beiseite zu schieben.
„Nun denn, lass uns besprechen, wozu ich dich hergebeten habe. Ehe der Tag anbricht musst du wieder heimgekehrt sein. Darüber hinaus kann ich dir keine Leibwache garantieren.“
Perchta wandte sich um und Arrow folgte ihr. Nicht weit entfernt machten sie an einer kleinen Hütte halt, die, wie alles an diesem gottverlassenen Ort, überaus gruselig wirkte. Das Holz war alt und morsch. Totes Gestrüpp umwand die halb verwitterten Fensterläden, beinahe überall klebten getrocknete Blutreste und das Holz war mit tiefen Kratzspuren übersät. Als sie eintraten, knarrte die Tür, und was sich dahinter befand wirkte ebenso wenig einladend wie das Äußere. Eine Truhe und Folterwerkzeuge standen herum. Einige davon konnte man nur teilweise erspähen, denn sie wurden von dichten Netzen, in denen dicke Spinnen thronten, verdeckt. Ein Skelett saß an einem Tisch und versuchte, die Würmer zu verzehren, die sich vor ihm auf einem Teller wanden. Als es Arrow erblickte, unterbrach es sein Mahl und betrachtete sie eindringlich mit rot glühenden Augen. Es war eine Drohung, es nicht weiter anzustarren, und obwohl sie genau darum wusste, hielt sie seinen Blicken dennoch Stand.
Gerade, als es versuchen wollte, über den Tisch zu springen und auf sie loszugehen, wurde es abrupt von jemandem niedergeschlagen, der praktisch wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Die Knochen verteilten sich in allen Ecken des Raumes, bevor sie sich langsam wieder zusammenfügten.
„Ihr seid zu spät!“, fuhr Frau Perchta die Person an und als diese sich umdrehte, erkannte Arrow, dass es Frau Gaude war.
„Ihr hattet recht“, erwiderte sie schnell. „Die Späher sind dem Mädchen bis zur Waldgrenze gefolgt und es scheint, als hätten sie ihre Angst vor Eurem Reich verloren. Die Perchten und ich haben die Banshees auf sie gehetzt, doch auf einige wenige scheinen ihre Schreie keinerlei Einfluss zu haben und sie warten noch immer vor unseren Toren.“
„Sollen sie doch“, entgegnete Perchta mit einem herablassenden Auflachen. „Schon bald beginnen die Raunächte. Dann gehört ihre Welt für einen kurzen Moment wieder mir und jeder respektlose Tölpel, der sich dann noch dort draußen herumtreibt, wird es bereuen, derart herablassend auf mich und mein Heer hinabgesehen zu haben. Wir besitzen noch ganz andere Waffen als das Geheul der Todesfeen.“
„Soll das bedeuten, dass sie sich zurückziehen, sobald die Wilde Jagd beginnt?“, fragte Arrow hellhörig.
„Darauf kannst du Gift nehmen. Außerhalb der Raunächte können sie mich verspotten, doch währenddessen erzittern ihre Knochen beim bloßen Gedanken an meinen Namen. Die Banshees sind nicht befugt, sie mit meinem Mal zu zeichnen und in den Holunderwald zu verschleppen, doch wenn ich erst meine
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