Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
sehr braucht ein Kind seine Mutter“, redete er auf sie ein. „Das ist eine Tatsache, die jedem Lebewesen in jeder Welt bekannt ist. Bedauerlicherweise scheint dir das nicht bewusst zu sein.“
An diesem Abend fiel es Arrow erneut schwer, Schlaf zu finden. Hätte sie Keylam sagen sollen, wie sehr sie selbst darunter litt, dass sie auf unbestimmte Zeit von ihm und ihrem Sohn getrennt sein würde? Und würde es ihn überhaupt milder stimmen, wenn er davon wüsste, oder wäre er dann noch entschlossener, sie zu begleiten? Immerhin war es ihnen nicht mehr gelungen, ihren Streit beizulegen.
Das schwache Licht des Eismondes fiel durch die Balkonfenster. Es ließ die Wandreliefs aussehen, als würden sie sich bewegen. Hier im Untergrund reiste der Mond mehrmals über den Himmel und die Schatten, die er dabei erzeugte, wirkten nicht immer beruhigend auf den Betrachter.
Als Arrow schließlich doch einschlief, bemerkte sie den Übergang nicht. Wieder einmal fühlte sich alles täuschend echt an. Ganz deutlich war die leere Wiege zu erkennen, in der gerade noch ihr Sohn geschlummert und der leere Platz neben ihr im Bett, auf dem zuvor noch ihr Mann geschlafen hatte. Doch es war noch immer mitten in der Nacht und so fragte sie sich, aus welchem Grund Keylam Tyron genommen und mit ihm das gemeinsame Schlafgemach verlassen haben könnte. Leisen Schrittes machte Arrow sich auf die Suche nach ihnen.
Zuerst führte sie ihr Weg in Annes Schlafgemach und als sie dort niemanden vorfand, ging sie zum Zimmer ihres Bruders. Doch dies war ebenso verlassen. Verwundert schritt sie die leeren Gänge entlang bis zur Eingangshalle. Als hätte sie es geahnt, war dort ebenfalls niemand anzutreffen, doch als das Geräusch einer meckernden Ziege im Vorgarten erklang, wurde sie stutzig. Wie nicht anders zu erwarten, traf sie dort den Puka an. Doch bevor sie ihn fragen konnte, was er hier unten zu suchen hatte, verschwand er erstaunlich schnellen Schrittes im Eislabyrinth.
Sie hatte Mühe, ihm zu folgen. Dennoch ertönte jedes Mal, wenn sie im Begriff war aufzugeben, ein glucksendes Meckern und plötzlich überkam sie das Gefühl, in eine Falle zu laufen. Offenbar lief der Puka gar nicht vor ihr weg, sondern führte sie absichtlich zu einem ganz bestimmten Ziel.
Der Weg, den sie nahm, war ihr gänzlich unbekannt und die Tunnel wurden mit jedem Schritt dunkler und enger. Trotzdem fand sie sich plötzlich in dem Raum mit der Abaläe wieder und ohne einen weiteren Gedanken an den Puka zu verschwenden, verspürte sie plötzlich wieder den Drang, einen Blick hinter die Maske zu werfen.
Ihre Finger ruhten schon darauf, aber sie zögerte. Sollte sie das wirklich tun? Wenn sie die Geschichten und das Geheimnis um diese Skulptur richtig interpretierte, handelte es sich dabei um ein heiliges Symbol, das sie mit ihrer Neugier womöglich entweihen würde.
Völlig unerwartet huschte ein Funkeln über die Augen der Abaläe. Arrow zuckte zusammen und zog erschrocken ihre Hand zurück. Sollte das eine Warnung gewesen sein? Wenn ja, mochte sie sich kaum die Konsequenzen für ihr Vorhaben ausmalen. Doch wie sollten die schon aussehen? Immerhin stand sie noch in Perchtas Schuld und etwas in ihrem tiefsten Innern sagte ihr, dass sie einen hohen Preis für Emilys Entführung zahlen würde.
„Nun mach schon“, ertönte die Stimme des Pukas. „Trau dich. Sie wartet darauf.“
Arrow wandte sich um, und in dem Moment, da sie das hinterlistige Biest an einem der Eingänge erblickte, wusste sie, dass es eine Falle war. Dennoch konnte sie der Versuchung nicht länger widerstehen. Sie hielt den Atem an und griff nach der Maske und als sie dahinter ihr eigenes, in Eis gemeißeltes Gesicht erkannte, taumelte sie voller Entsetzen zurück.
„Stellvertretend für all jene, die um ihre Kinder weinen“, hörte sie eine fremde Stimme sagen.
Panisch wandte sie sich um. An der Stelle, an der eben noch der Puka gestanden hatte, befand sich nun der Mann, der auf dem Gipfel eines Berges verweilt hatte, als sie mit Emily aus dem Holunderwald zurückgekehrt war. Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln, das ihr durch Mark und Bein fuhr. Sie versuchte zu schreien, doch ihre Stimme arbeitete gegen sie.
Plötzlich schreckte Arrow hoch. Schweißgebadet eilte zu der Wiege ihres Sohnes, in der er friedlich schlafend lächelte. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, doch so sehr sie ihn am liebsten auch an sich gedrückt hätte, musste sie sich zuerst vergewissern, was an diesem Traum
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