Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
entgegnete Arrow stirnrunzelnd. „Du kennst doch dein Gegenstück bereits und kannst sie ganz anders einschätzen. Schließlich sind ich und mein Sohn die einzigen unserer Art, die nach der Entzweiung unseres Volkes geboren wurden. Somit hatte ich nicht die geringste Ahnung, was da auf mich zukommen würde, denn ich war von Geburt an unvollkommen. Ich glaube nicht, dass man unser beider Situationen miteinander vergleichen kann.“
„Hast du eine Vorstellung davon, wie lang eintausend Jahre dauern?“, erwiderte Elon erschöpft. „Es ist eine Zeitspanne, die man nicht begreifen kann. Irgendwann fängt man an, Dinge zu vergessen, und ich rede nicht von Kleinigkeiten, sondern von Dingen, die wichtig sind. Ich kann mich zum Beispiel nicht mehr an die Namen meiner Kinder erinnern, die ich vor der Entzweiung geboren habe und ebenso wenig weiß ich noch, wie sie ausgesehen haben. Einerseits lebt man dieses eine Leben und doch ist es unendlich mehr. Man ist auf der Flucht und tut alles, um nicht erkannt oder geschnappt zu werden. Freunde und Familie entfremden sich. Irgendwann findet man neue Freunde und der Kreislauf beginnt von vorn. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie es war, vollkommen zu sein. Das einzige, dessen ich mir absolut sicher bin, ist, dass etwas fehlt. Und dort, wo es sein sollte, befindet sich ein Loch, das nichts füllen kann. Nichts, bis auf ... sie.“
„Aber die Erinnerungen, von denen du da sprichst, sind genau genommen nicht deine eigenen. All diese Dinge sind doch lange geschehen, bevor die Geister das Geschenk der Seelen empfangen haben. Es sind ihre Erlebnisse, die du vergessen hast.“
„So kann nur jemand reden, der die Geister und ihre Seelen nicht als eins sieht und die Leere nie gespürt hat“, entgegnete sie müde. „Wärest du wirklich eine von uns, mit deinem ganzen Herzen, wüsstest du, wovon ich spreche, denn ich kenne keinen unseres Volkes, der nicht genauso fühlt wie ich. Zwar ist es wahr, was du sagst, doch wie kannst du wissen wie es ist, etwas zu vermissen, das du bisher nie verloren hast? Es ist wie bei einem Kind. Hast du dir je vorstellen können, wie sehr es dich verzaubert, wie es dich mit Freude und mit Sorgen erfüllt, bevor du gewusst hast, dass es kommen wird? Und denkst du, dass etwas anderes je die Lücke in dir füllen kann, die er hinterlassen hat, als du ihm Lebewohl sagen musstest?“
Arrow musterte sie verwirrt. Wie konnte Elon nur so etwas sagen? Wusste sie denn nicht, wie tief die Wunden waren, die der Verlust ihres Kindes mit sich gebracht hatte? Hatte sie sich denn nicht denken können, dass Arrow seither jede Sekunde und jeden Atemzug ihres Lebens damit verbrachte, stark zu bleiben? Natürlich war sie sich all dessen bewusst gewesen. Und es lag auch nicht in ihrer Absicht, Arrow zu verletzen, sondern nur, ihr zu zeigen, wie sehr sie die Worte schmerzten, die Arrow über die Nyriden gesagt hatte.
Elon senkte ihren Blick. Mit leeren Augen starrte sie die Steinplatten auf dem Fußboden an. Fast hätte man meinen können, dass ihr das einen Moment der Ruhe bescherte, doch dem war nicht so. Als sie wieder aufsah, schaute sie zu dem Percht, der nach wie vor regungslos an der Treppe verharrte.
„Meinst du, dass er mir etwas über sie sagen kann?“
„Ich kann es mir nicht vorstellen. Die Geister, die sie im Holunderwald bewachen müssen, sind zu zahlreich, um sich mit einzelnen genauer zu beschäftigen. Und die Perchten sind zu wenige.“
„Glaubst du wirklich, dass ein solches Wesen Interesse an irgendetwas zeigen kann? Sie kommen mir kalt und gefühllos vor.“
„In jedem Fall sind sie anders als wir. Ich persönlich habe sie als überaus loyale und entschlossene Geschöpfe kennengelernt. Sie würden ihre Herrin nie hintergehen und das schätze ich sehr an ihnen. So gesehen kann ich mir schon vorstellen, dass sie ein gewisses Bewusstsein für andere Wesen haben. Es ist eben nur anders ausgeprägt als das unsere.“
Elon reagierte nicht mehr auf diese Worte. Dennoch wusste Arrow, dass ihr dieses Gespräch nach all den Jahren kaum half. Und wer konnte es ihr verdenken? Allein der Gedanke, sich mehr als eintausend Jahre unvollkommen zu fühlen, war unerträglich. Und wenn es tatsächlich so war, dass man irgendwann sogar Dinge vergaß, kam sie nicht umhin, sich zu fragen, ob sie selbst so lange leben wollen würde.
Sie zuckte zusammen. Dieser Gedanke hatte etwas in ihr entflammt, doch nicht etwa, weil sie dabei an sich selbst dachte, sondern an
Weitere Kostenlose Bücher