Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
gar nicht mehr, wann das gewesen ist, vermutlich als ich sechs oder sieben Jahre alt gewesen bin. Ich habe ihm die Bilder geschenkt und er hat sie alle aufbewahrt.“
Plötzlich zuckte Bon zusammen. Mit finsterer Miene wandte er sich um.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Arrow verwundert.
„Dort hinten ist jemand“, flüsterte er.
„Ein Finsterling?“
„Nein, diese Biester sind zu groß, um sich in einer solch kleinen Ecke verstecken zu können.
Arrow sprang auf und zog ihr Messer. Wachsam ging sie um eine Seite des Bettes, während Bon die andere nahm.
„Wer ist da?“, fragte sie strengen Tones. Doch niemand antwortete.
„Wer immer du bist, zeig dich!“
Sie hielten einen Moment inne, als jedoch wieder nichts geschah, stapfte Arrow in einem Anflug von Wut um das Bett herum. Musste das ausgerechnet jetzt passieren? Dieser Moment war so unbeschreiblich schön gewesen und nun wurde er von irgendeinem Störenfried ruiniert. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Waren ihr denn nicht einmal ein paar Minuten Glück vergönnt?
Plötzlich ertönte ein Geräusch. Es klang wie das Klimpern von Holzscheiten, sobald man sie in den Kamin legte.
„Arrow, warte!“, rief Bon alarmiert.
Abrupt blieb sie stehen und musterte ihn fragend. Der Riese senkte seine Klinge und ging mit entspannter Miene um das Bett herum, wo er eine Decke vorfand, die wie Espenlaub zitterte und unter der eindeutig die Geräusche herkamen. Vorsichtig zog er den zerlumpten Stofffetzen beiseite und verharrte überrascht vor dem, was er darunter vorfand.
„Was ist?“, fragte Arrow ungeduldig.
„Ein Korkenzieherweidemännchen“, entgegnete er erfreut.
Sie musterte ihn stutzig. Ein Korkenzieherweidemännchen? Was war das denn schon wieder?
„Warte“, sagte er schnell, bevor sie sich ihm weiter nähern konnte. „Steck erst dein Messer weg. Es fürchtet sich davor.“
Nur widerwillig tat Arrow, worum Bon sie gebeten hatte und trat anschließend vorsichtig näher. Im schwachen Licht der Ecke konnte sie zunächst nicht viel erkennen und als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, hatte sie das Gefühl, sich vor einem Haufen von Krüppelzweigen wieder zu finden. Als es dann jedoch den Kopf hob und sie in zwei vollkommen verängstigte und eingeschüchterte Augen blickte, verflog der Ärger ebenso schnell, wie er gekommen war.
„Sie sind so selten wie die Moosweiber“, erklärte Bon. „In meinem ganzen Leben habe ich erst eines von ihnen gesehen. Und dieser verlassene Ort ist der letzte, an dem ich mit einem solchen Geschöpf gerechnet hätte.“
„Spricht es unsere Sprache?“
„Es ist wie bei den Dryaden. Sie verstehen, was wir sagen. Andersherum müssen wir ihre Körpersprache deuten.“
„Hallo, kleiner Kerl“, sagte Arrow und hockte sich mit einem freundlichen Lächeln vor ihn. Noch immer zitterte der kleine Mann am ganzen Körper. Arrow streckte ihm die Hand entgegen, doch er presste sich noch dichter an die Wand.
„Du musst dich nicht länger fürchten. Wir werden dir nichts tun.“
Er musterte sie verschüchtert und nun tat es ihr leid, dass sie anfangs so barsch reagiert hatte. Ganz unerwartet erhellte sich das Gesicht des kleinen Mannes und er hörte auf zu zittern. Dann zog er ein in Leder gebundenes Buch hervor, um welches er zuvor noch seine hölzernen Arme geschlungen hatte. Weder Bon noch Arrow war es bisher aufgefallen. Dann schlug er es auf, nahm ein loses Blatt Papier heraus und studierte es eingehend. Zwischendurch fiel sein Blick immer mal wieder auf Arrow.
„Was tut er da?“, fragte sie verwundert.
„Woher soll ich das wissen? Frag ihn doch.“
Doch das brauchte sie gar nicht mehr, denn bereits im nächsten Augenblick reichte er es Arrow.
„Das bin ich“, stammelte sie gerührt. „Eine Zeichnung von mir. Mein Vater hat sie an unserem vorletzten Weihnachtsfest in Elm Tree angefertigt.“ Dann schaute sie wieder das Männchen an. „Hast du noch mehr davon?“
Es nickte und reichte Arrow das Buch. Sie schlug es auf und hielt plötzlich Dutzende solcher Portraits von sich in der Hand. Das älteste zeigte sie in ihrer Kinderwiege in Elm Tree, gefolgt von Bildern mit Anne, Dewayne und ihren Freunden. Dann blätterte sie die Seiten des Buches durch. Nicht alle waren gefüllt, und dort, wo etwas geschrieben stand, wechselte das Schriftbild, als wären die Texte von zwei verschiedenen Personen verfasst.
„Was ist es?“, fragte Bon neugierig.
„Ich weiß es nicht genau. Einerseits sieht es aus
Weitere Kostenlose Bücher