Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
wie ein Tagebuch, aber auf der anderen Seite auch nicht.“
Fragenden Blickes reichte sie es dem Riesen und nachdem dieser die ersten Seiten überflogen hatte, sagte er: „Das ist ein Geminusbuch.“
Mit hochgezogenen Augenbrauen wartete Arrow auf eine Erklärung, denn Bon sagte es so, als müsse sie wissen, wovon er redete.
„Lass mich raten“, erwiderte er ihren Gesichtsausdruck mit einem sarkastischen Unterton. „Du hast noch nie etwas von einem Geminusbuch gehört.“
Mit gekräuselten Lippen schüttelte sie den Kopf. „Nun schau mich nicht so an. Selbst wenn ich in dieser Welt aufgewachsen wäre, könnte ich unmöglich so viel darüber wissen wie du es tust. Immerhin bist du ... uralt!“
„Na, also das möchte ich jetzt bitte überhört haben. Gegenwärtig befinde ich mich im besten Alter und habe wenigstens noch einmal so viele Jahre vor, wie ich sie schon hinter mir habe.“
„Und wie viele genau sind das?“
„Mit Außenstehenden sprechen Zwerge nicht über so etwas. Ihr müsst schließlich nicht alles wissen. Aber darum geht es auch gar nicht, sondern dass Geminusbücher nur in der Weltenbibliothek gefertigt werden. Soviel ich weiß, haben sie dort einst Zwillingsschnecken gezüchtet. Der Gnom hat dir doch damals die Häuser einer solchen Schnecke überlassen. Diese Tiere erreichen kein besonders hohes Alter, und nach ihrem Ableben kann man aus den Häusern eine Flüssigkeit gewinnen, die ähnliche Eigenschaften besitzt, wie so ein Haus. Tränkt man dann die Seiten zweier Bücher darin, entsteht ein Geminusbuch. Ich hatte angenommen, der Gnom hätte es dir gezeigt.“
„Wäre mir damals die Zeit dafür geblieben, hätte er das bestimmt getan. Im Moment allerdings erschließt sich mir noch nicht ganz der Sinn eines solchen Buches.“
„Geminusbücher existieren immer paarweise. Bei der Herstellung ist es wichtig, dass man den Überblick behält. Man darf nicht etwa die Flüssigkeiten verschiedener Häuser mischen, und genauso sehr muss man darauf achten, dass man die Bücher richtig zuordnet. Sie funktionieren nur, wenn sie von den Häusern derselben Zwillingsschnecke stammen. Ist eines der Bücher zerstört, so ist das andere wertlos. Das Prinzip ist ganz einfach. Besitzt du ein solches Buch und ich das dazugehörige Gegenstück, so wird alles, was du dort hinein schreibst, auch bei mir auftauchen und anders herum. Wir könnten uns Briefe schreiben, wenn wir meilenweit voneinander entfernt wären, und kein Bote müsste sie zustellen. Und wenn ich mir dieses Exemplar genauer anschaue, sieht es so aus, als hätte das dazugehörige Gegenstück einst Anne gehört. Vielleicht besitzt sie es sogar immer noch.“
„Ein solches Buch habe ich bei ihr nie gesehen“, murmelte Arrow nachdenklich. „Aber so wie es aussieht, wurde es zu einer Zeit geschrieben, als ich noch in der Menschenwelt gelebt habe. Ich könnte versuchen, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Wenn ich etwas hier reinschreibe und sie hat es tatsächlich noch, müsste sie mir doch antworten.“
„Davon rate ich dir dringend ab“, warnte der Riese. „Wir wissen nicht, ob es noch existiert. Und wenn dem so ist, kannst du nie wissen, wer dir antwortet. Das ist einer von vielen Gründen, warum sich diese Bücher keiner sehr großen Beliebtheit erfreuen. Betrachte es lieber als eine Reise in die Vergangenheit und als etwas, das dir möglicherweise einige offene Fragen beantwortet, aber sieh davon ab, es zu benutzen. Du weißt, dass sie hinter dir her sind, und um dich in die Finger zu bekommen, werden sie alle Möglichkeiten ausschöpfen.“
Arrow senkte den Blick. Zu wissen, wie es ihrem Sohn und Anne ging, wäre auch zu schön gewesen. Bestimmt waren sie in Sicherheit. Dennoch hätte es ihr eine Last vom Herzen genommen, hin und wieder ein Lebenszeichen von ihnen zu erhalten. Aber es stimmte schon, was Bon sagte. Selbst wenn sie eine Antwort erhielt, wer garantierte ihr, dass sie tatsächlich von Anne stammte? Die Versuchung war groß, dennoch musste sie sich zusammenreißen.
„Und was machen wir mit dem kleinen Kerl hier?“, fragte sie und deutete auf das Weidemännchen.
„Sie sind überaus treue Geschöpfe. Wenn du mich fragst, hat dein Vater ihn einst mit der Aufgabe betraut, dieses Buch vor Feinden zu schützen. Ich denke nicht, dass es nach all der Zeit noch immer darauf gewartet hat, dass Melchior irgendwann zurückkommt. Es wird gewusst haben, was geschehen ist. Und nun, da du anstelle deines Vaters aufgetaucht bist, hat er
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