Sommersonnenwende (Winterwelt Trilogie) (German Edition)
seine Mission erfüllt. Sollte es in seiner Absicht liegen, zu gehen, so wird er das tun. Wenn er aber bleibt, musst du ihn mit etwas betrauen, das dir am Herzen liegt. Tust du es nicht, wird er irgendwann eingehen. Seine Blätter werden welken, die Zweige austrocknen und nach seinem Ableben zu Staub zerfallen. Manche Lebewesen brauchen Sonne zum Leben, die anderen Wasser oder beides. Andere wiederum benötigen nichts von alledem, sondern nur das Vertrauen, das jemand in sie investiert und sie, sei es auch nur für diese eine Person, bedeutend macht. Nichts lässt ein Geschöpf schneller verdorren, als das Gefühl, belanglos zu sein.“
Liebe Anne
Es bedurfte keiner langen Überlegungen, bis Arrow wusste, dass sie von nun an das Zimmer ihres Vaters beziehen würde. Verträumt saß sie auf dem Bett, das Bon bewusst nicht ausgetauscht hatte, und schaute sich alles ganz genau an. Es gab Dinge, die ihr bekannt vorkamen wie beispielsweise eine Taschenuhr, die nur über elf statt zwölf Ziffern verfügte, ein Tintenfass in Form einer Dryade und eine Feder, die wie ein kleiner Baum anmutete. Anderes, wie eine kleine Zentaurenfigur oder das Windspiel, das aus vielen kleinen Nixen bestand, die sich in den Wellen tummelten, hatte sie wiederum noch nie gesehen. Besonders auffällig war jedoch, dass es sich bei den vertrockneten Blumen, die das Zimmer noch immer säumten, überwiegend um Vergissmeinnicht handelte. Es waren sowohl ihre Lieblingsblumen als auch die ihres Vaters. Während des Frühjahrs war er so gut wie nie in der Menschenwelt gewesen. Doch wann immer Arrow mit ihren Freunden über Wiesen und Felder streifte, erblickte sie meist unverhofft ein Vergissmeinnicht. Dann musste sie an ihn denken. Schließlich hielt sie es nicht für einen Zufall, dass diese Blumen dort wuchsen, sondern betrachtete es stets als kleinen Gruß aus der Ferne.
Das Weidemännchen war derweil in der Ecke neben dem Bett eingeschlafen. Mit ihrer anfänglichen Wut musste Arrow es sehr verschreckt haben. Bon sagte, diese Geschöpfe fingen nur dann an zu klappern, wenn sie Gefahr witterten. Nun, da es sich wieder beruhigt hatte, musste es wieder neue Kraft tanken.
Voller Spannung schlug sie das Buch auf, welches sie die ganze Zeit über an sich gedrückt hatte, und begann, die ersten Zeilen zu lesen.
Liebe Anne,
gerade erst habe ich euch verlassen und doch hat mich sogleich die Sehnsucht nach meinen Kindern gepackt. Wie geht es ihnen? Was habe ich bisher verpasst? Hat Arrow schon gelernt zu krabbeln? Wie schreitet Dewaynes Schulausbildung voran?
Es grämt mich, dass in der Welt, in der ich euch zurückgelassen habe, die Zeit so viel schneller voranschreitet als bei uns. Pausenlos frage ich mich, was ich wohl verpassen werde und dann bin ich betrübt, denn vor allem meine Tochter erfüllt mich mit so viel Glück, dass ich am liebsten jede Sekunde mit ihr verbringen möchte. Denkst du, dass es ihr womöglich ebenso ergeht und sie mir deshalb ihr allererstes Lachen geschenkt hat?
Seit sie da ist, hat sich so viel verändert. Manchmal denke ich, dass sie die Lücke in meinem Herzen geschlossen hat. So lange schon habe ich seinen Ruf nicht mehr vernommen. Dabei ist er vor kurzem noch so stark gewesen, dass ich befürchtet habe, meinen dunklen Gefühlen nicht länger standhalten zu können. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, erfüllen mich diese Gedanken mit Angst und Schrecken. Habe ich mir zuvor nicht mehr vorstellen können, wie es ist, glücklich zu sein, so frage ich mich inzwischen die ganze Zeit, wie ich es einst nicht sein konnte. Ich weiß, dass sie es ist, die diese Gefühle in mir auslöst und dafür werde ich ihr auf ewig dankbar sein.
Gib meinen Kindern einen Kuss von mir und sage ihnen, dass ich sie liebe.
Melchior
Arrow lächelte als sie das Buch zuschlug. Jetzt waren ihre Gedanken frei und sie konnte sich endlich schlafen legen. Sie griff nach den beiden Decken neben sich. Während sie eine davon für sich selbst nahm, legte sie die andere auf das Weidemännchen. Ob es diese überhaupt brauchte, wusste sie nicht. Doch allein die Tatsache, dass es so treue Dienste für ihren Vater verrichtet hatte, ließ in ihr das Gefühl entstehen, dass er in diesem Moment durch dieses kleine Geschöpf noch näher bei ihr war. Dafür wollte sie sich erkenntlich zeigen.
Unmittelbar bevor sie einschlief hörte sie noch, wie die Nyriden an ihrem Fenster vorbeiflogen und ganz unerwartet war ihre Furcht vor ihnen verschwunden. Das Gespräch
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