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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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etwas mußte geschehen. Aber zuerst sollte Antonis den Bock sehen. Jan ging voran. Da war die Senke, das niedrige Gehölz. Da war die Kuhle im Gras, die der Körper des Bocks niedergedrückt hatte. Da die Blutlache. Der Bock war weg. Das ist unmöglich. So weit kann er sich nicht weggeschleppt haben. Und in diesem Tempo. Er wollte es nicht fassen. Er hatte den Bock beim Sterben gestört. Anstatt an einem Gnadenschuß würde er im Dickicht irgendwo mühsam an seiner Wunde verenden. Solche Jäger müßten bestraft werden, hatte er gesagt, er dachte es wieder, als er die Krebse aus dem kochenden Wasser hob, sie in der großen weißen Schüssel auf den Tisch brachte. Kerzen brannten. Seht ihr das? sagte Luisa. Ist das nicht unglaublich schön? Ja, dachte Ellen, aber warum müssen wir es uns dauernd beteuern. – Schwärm nicht! sagte Jan zu Luisa. Hol den Wein. Luisa, die beiden Flaschen fest an den Hälsen haltend, schrie auf: Wenn ich sie jetzt fallen lasse! Dann holst du eben neue, bloß die sind nicht gekühlt. – Wie ihr das sagt.
    Der Phantombock würde sie nicht mehr verlassen. Immer wieder würden sie sich seinen Blick vorstellen müssen. Schweigend hatten sie sich ins Auto gesetzt, waren losgefahren. Jan wußte, Ellen dachte an jenen Sommertag vor ein paar Jahren, als sie, ebenso wie heute im Auto unterwegs, dicht hinter einem Dorfausgang einen Knall gehört hatten, den nur er sofort alsSchuß erkannte, und gleich darauf das widerwärtige Geräusch, wie eine Kugel in Fleisch einschlägt, und dann erst das Reh sahen, das, ganz nah bei den letzten Dorfhäusern, arglos geäst hatte und nun, wie verwundert, im Zeitlupentempo zusammenbrach. Zuletzt erblickten sie den Jäger, keine zwanzig Meter von ihnen entfernt, kniend, das Gewehr im Anschlag, hinter dem Holzgatterzaun neben der Straße. Ellens Schreck, ihre Tränen, ihre Empörung. Dem Wild hier aufzulauern, nahe dem Dorf! Was willst du. Daß du von dem Anblick der Tötung verschont bleibst? – Wie damals hatte er auch heute scheinbar gelassen am Steuer gesessen, konnte sich nicht nach ihr umsehen, die nun ihrerseits ihre Hand auf Luisas Arm legte, der heftig zuckte. Wenn er Förster geworden wäre, sein innigster Wunsch als Junge. Im Bruchteil einer Sekunde lief ein anderes Leben vor ihm ab, ein unauffälliges, zurückgezogenes Leben, das ihm nicht schlecht gefallen hätte. Ein Leben mit einer anderen Frau, anderen Kindern, ein Leben um ein anderes Zentrum wachsend als um das Geheimnis der Dichtung. Die Natur wäre an die Stelle der Bücher getreten, der Umgang mit Büchern wäre nicht als Beruf mißbraucht worden, sie hätten ihren Zauber bewahrt. Dafür wäre der Wald, als Ort der Berufsausübung, entzaubert worden.
    Jan goß ein. Wie oft Ellen ihn so hatte stehen sehn, zuerst das Etikett präsentierend, die Vorzüge der Marke preisend, dann, die Flasche leicht drehend, sich über den Tisch beugend, daß sein Haar in den Lichtschein der Lampe kam, eingießend. Jetzt hoben sie die Gläser. Jetzt häuften sie sich Krebse auf die Teller, knackten die Schwänze ab, brachen sie auf, zogen das zartrosaFleisch heraus, beträufelten es mit Zitrone. Dazu das dunkelbraune Roggenbrot, frische Butter. Der Wein schimmerte grünlich in den alten Gläsern, sie tranken schnell und durstig. Fast augenblicklich waren sie leicht berauscht. Ellen liebte diese ersten Minuten, wenn der Wein, den man auf fast nüchternen Magen trinkt, schnell seine Wirkung zeigt, die Freudefähigkeit erhöht, ohne die Sinne zu umnebeln oder das Denken zu täuschen. Noch einmal schien, das hatte man nicht erhoffen können, eine Landschaft sich um sie herum aufzubauen. Da zu sein, ohne daß sie sie sah, mit ihren Abstufungen von Helligkeit und Dunkel im Mondlicht.
    Sie aßen spät. Der Tag war lang gewesen, Antonis würde übermorgen abfahren, dies war sein letzter Tag, was er heute nicht abschloß, würde er nicht zu Ende bringen. Also hatten sie noch zu den Häusern fahren müssen. Die Truhe kaufen. Welche Truhe, Antonis. Ihr werdet sehen. – Erbarm dich. Fallt mir jetzt nicht in den Rücken.
    Als ob ich gerade diese Fahrt noch gebraucht hätte, um anzukommen, dachte Ellen. Das erste Haus, auf das sie zufuhren, das allein an einem Weg lag, inmitten von Feldern, allen Winden ausgesetzt, auf Gottes flacher Hand. Ein kerniges Haus, das Dach intakt, keine Feuchtigkeit im Mauerwerk, aber ein guter Geist schien es nicht zu sein, der innen waltete. Obwohl die Frau sich freute, als sie zu ihr in die

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