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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ins Ohr, den sie in ihrem Gedächtnis aufbewahrte:
    Gustav Adolf, Christ und Held,
    rettete bei Breitenfeld
    Glaubensfreiheit für die Welt.
    Heute nacht habe ich im Traum, dachte Ellen, den Mann mit der Sense verraten. Geschlagen ziehen wir nach Haus. Die Trauer ist berechtigt. Was aber, wenn da nur noch die Treueforderung ist, und der Hang, ihr zu gehorchen, aber niemand mehr und nichts, den oder das man verraten kann? Wenn alles in der falschen Weise zusammenpaßt und in der richtigen Weise auseinanderfällt?
    Es hörte noch nicht auf. Das Stimmenkarussell im Kopf ging weiter. Man müßte mal, sagte Ellen zu Jan, eine Heilige Johanna schreiben; aber die Johanna dürfte nicht standhaft bleiben, sondern müßte widerrufen. – Eine Johanna also, die sie am Leben lassen? – Eben nicht. Sie widerruft: Dann wird sie erst recht verbrannt. Sie ist ja in jedem Fall eine Verräterin. Im zweiten Falle an sich selbst.

10.
    Daß eine jede Erwiderung nur für kurze Zeit gilt. Daß die Erzählung ihr Material tötet, indem sie sich von ihm nährt. Luisa kannte nicht, sie ahnte das grausame Gesetz der Kunst: daß man sie mit Teilen von sich selbst füttert. Das konnte sie nicht wollen, nie würde sie es zulassen, daß eines ihrer Talente sich zu einem Werk verdichtete, aber die Anstrengung, es zu wollen, es zu tun, konnte sie ebensowenig lassen, in dem Widerspruch würde sie leben, also im andauernden Bewußtsein ihrer Unzulänglichkeit. Genügte es etwa, den Blick zu haben, die Gabe, zu sehen. Bedacht und beladen zu sein mit der Fähigkeit, sich einzufühlen, beinahe überzugehen in einen anderen, das mußte nicht ausdrücklich ein Mensch sein, es galt auch für Tiere. Sie konnte ja nichts dafür, aber sie wußte, was in ihrer Katze vorging, wenn sie sie ansah, das Gemütsleben des Hundes Lux durchschaute sie bis in seine feinsten Verästelungen. Überflüssig zu sagen, daß das innere Wachstum von Littelmary ihr so vertraut war, als hätte sie selbst es bewirkt. Und daß sie keiner Anforderung, die irgend jemand an sie richtete, einen Widerstand entgegensetzen konnte, am wenigsten, wenn ein Kind sie in Anspruch nahm.
    In der Küche wurden die Krebse zubereitet. Sie lebten. Jan tat sie in eine große Schüssel mit Wasser und fischte die wenigen heraus, die sich tot stellten, die Feiglinge. Die anderen warf er in die Töpfe mit kochendem Wasser, seht doch weg, wenns euch schaudert, essen werdet ihr sie nachher schon. Er sah zu, wie sie sichrot färbten, krebsrot. Weißwein war unter der Wasserleitung kalt gestellt, frisches dunkles Brot wurde geschnitten, Käse auf einer Platte angeordnet. Einen Propangasherd würden sie sich als nächstes anschaffen müssen, damit diese Wirtschaft mit den Elektrokochplatten aufhörte. Ein Glück, daß der große Warmluftofen im vorderen Zimmer endlich fertig war, im Winter würde er seine Qualitäten offenbaren und die Zweifler überzeugen. Mit Antonis besprach er, während die Krebse kochten, den günstigsten Verlauf der elektrischen Leitungen. Wärme, Wasser, Licht – auf einmal keine Gegebenheiten, sondern lebendige, widerspenstige Elemente, die man einfangen, sich zuleiten mußte, deren Vorhandensein oder Fehlen man ausführlich beredete. Da gingen sie in ein primitives Leben zurück – aber was hieß »zurück«, was »vorwärts« –, nur um dann eilig die Zivilisationsstufen nachzuholen.
    Die Geschichte mit dem Bock ging ihm nach, er hatte ihn doch gesehen, er war doch keiner Sinnestäuschung erlegen, in der Senke unmittelbar neben dem ehemaligen Gasthaus an der Landstraße hatte er gelegen, er hatte sofort Antonis gerufen, der um das Haus herumstrich, in die blinden, vorhanglosen Fenster blickte: Du, Antonis, da liegt ein angeschossener Rehbock! Er könnte ihn genau beschreiben, er sah ihn vor sich: die klaffende Fleischwunde in der rechten Hinterkeule. Die Blutlache. Seinen Blick, den vor allem. Seine ganze Kindheit war in diesem Bild zusammengeströmt. Der Wald. Seine einsamen Pirschgänge. Das Wild, das er beobachtete, dessen Gewohnheiten er genau kannte, mit dem er vertraut war. Die Jagden, an denen er als Treiberjunge teilnehmen durfte. Der Blutgeruch an den aufgebrochenenTieren. Der Geschmack frischer gebratener Wildleber. Er sah sich, den Jungen. Spürte ihn in sich. Seine Einsamkeit. Sein Glück. Seine Sehnsüchte.
    Den Frauen hatte er zugerufen, sie sollten nicht aussteigen. Sie sollten in Auto bleiben. Natürlich würden sie die nächste Försterei anrufen müssen, irgend

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