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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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innerliche Zittern wiederkam, während sie flehentlich dachte: Ruhe.Ruhe. Ruhe. Laßt mich doch um Gottes willen einmal in Ruhe. Während Luisa mit sich steigerndem Aufwand an Phantasie und Kraft das Archespiel weitertrieb, immer neue Arten zuließ, nicht nur die Tierarten fremder Kontinente, schließlich auch Ungeheuer und andere Phantasiewesen. Während sie am Ende dazu überging, Tiere zu erfinden, und doch spürte, lange würde sie Jonas nicht mehr halten können, es zog ihn zu Bella, die, in der Haltung, die Luisa fürchtete, immer noch in der Hitze am Frühstückstisch saß, die Butter auf ihrem Brot zerlaufen ließ und ihre zweite Zigarette rauchte. Während sie nun, nachgebend, mit Jonas auf sein ureigenstes Gebiet überwechselte, das des Kriegerischen, und wenigstens versuchte, es lächerlich zu machen, was ihr, wie sie glaubte, mit dem alten martialischen Lippe-Detmold-Lied leicht gelingen mußte. Aber weit gefehlt. Als die bewußte Strophe kam, als Luisa sie mit Baßstimme, wie ein bartstreichender Feldwebel sang: Und als er in die große Schlacht reinkam, da fiel der erste Schuß, bumbum – da konnte Jonas nicht das kleinste bißchen lächeln, nur todernst und vorwurfsvoll auf sie blicken. Ei da liegt er nun und schreit so sehr, ei da liegt er nun und schreit so sehr –, Luisa mußte abbrechen.
    Und all die Zeit über kreiste der Vogel über ihnen. Ein Habicht. Sehr hoch zuerst, fast unsichtbar. Dann zog er erdnähere Kreise, und dann sah Bella ihn herabstoßen, mitten durch die Sonne. Dann schrie Luisa auf. Und dann stieg er wieder hoch, pfeilschnell, ein kleines dunkles zappelndes Tier in den Krallen. Ein Schlag gegen das Herz, und jetzt das warme süße Blut in allen Adern. RAUBVOGEL SÜSS IST DIE LUFT / SOSTÜRZ ICH NICHT NOCH EINMAL DURCH DIE SONNE –
    Nicht daß du denkst, hörte Bella Jonas sagen, und er blickte sie mit seinen kleinen intensiven Augen durchdringend an, daß ich heute abend wieder schon um neun ins Bett geh. Nicht daß du denkst – Da brach Bella in Tränen aus, stieß seine Hand weg und lief ins Haus.
    Luisa hockte sich neben den schweigenden verschlossenen Jungen. War es die Hitze, die heute noch wilder schien als sonst? Lag Zersetzung in der Luft?
    Etwas hatte sich verändert.
    Etwas würde sich verändern, heute sagen wir alle, wir hätten gewußt, daß es so nicht bleiben konnte. Die Häuser sind abgebrannt. Die Freundschaften sind lockerer geworden, als hätten sie auf ein Signal gewartet. Der Schrei, der uns in der Kehle saß, ist nicht ausgestoßen worden. Aus unserer Haut sind wir nicht herausgekommen, anstelle der Netze, die wir zerrissen, haben sich neue geknüpft. Spinnwebfein oder dick wie Stricke. Wieder haben wir Zeit gebraucht, sie zu bemerken. Aber auch ihr werdet nicht vergessen haben, wie Luisa in jenem Sommer war, ehe sie anfing, jenen winzigen festen Punkt in ihrem Magen zu spüren. Der größer wurde, härter, kirschkerngroß, pflaumengroß, dann war es eine Kinderfaust, die fest, fest ihren Magen umklammert hielt, so daß er an manchen Tagen nicht imstande war, etwas aufzunehmen. Was sie selbstverständlich bestritt. Sie wolle einfach ganz leer sein, konnte sie sagen. Ihr Körper verlange danach. Und lange, lange konnte sie vor uns allen verheimlichen, daß sie das bißchen, daß sie unter unseren prüfenden Blicken zu sich nahm, oft wieder herausbrachte. Nein. Das fing nicht an, nachdemBella weggegangen war. Das fing an, als Luisa zu ahnen begann, daß Bella gehen würde. Daß sie Jonas mitnehmen und er für sie verloren sein würde. Sie muß es als erste vorausgesehen haben. Sie sprach darüber nicht. Ihre Augen wurden dunkler, wenn die Rede, besorgt wohl, aber immer noch unbefangen, auf Bella kam. Und als jener Anruf einging: Also, damit ihrs wißt: Ich gehe!, da sagte Luisa, bleich wie die Wand: Siehst du. Seht ihr. – Es hat sie nicht danach verlangt, die Wege der Leute vorauszusehen. Sie konnte nichts dagegen machen, daß sie selbst sich auflösen und im innersten Gewebe eines anderen einnisten konnte. Sie hat, was sie sah und wußte, immer für sich behalten. Sie hat es immer in sich hineingefressen. Kein Wunder, daß sie dann nichts mehr zu sich nehmen konnte.

13.
    Wer auf die Dauer mit Menschen, mit einem Menschen zusammenleben will, dachte Ellen, der muß das Geheimnis des anderen respektieren. Wem sagte sie das? Sprach sie in sich gegen jemanden an, mußte sie schon wieder sich oder irgend etwas ihr Wichtiges verteidigen? Sie sah durch das

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