Sommerstueck
wünschen, sogar fordern können, erst neulich hatte Jenny es steif und fest behauptet, und Ellen hatte eingeworfen, mit welcher BrachialgewaltJenny ihren Drang nach Unabhängigkeit gegen sie durchgesetzt hatte, als sie vierzehn, fünfzehn war. Rücksichtslos. Wenn sie nur an gewisse nächtliche Szenen denke, unangekündigtes Ausbleiben bis zum Morgengrauen, Alkoholmißbrauch, jawohl, frivoles Spiel mit der mütterlichen Angst... Überangst, konnte Jenny ungerührt sagen, Überbesorgnis, die man der Mutter beizeiten abgewöhnen muß. Alles undenkbar für Luisa. Andere verletzen – nie. Gerade fing sie an, sich behutsam, als umschleiche sie in weitem Bogen einen gefährlichen Abgrund, zu fragen, warum sie sich ihrer ausschweifenden Wünsche wegen Nacht für Nacht mit dieser namenlosen Angst bestrafen mußte. Niemand konnte so unwürdig und lasterhaft sein wie sie. Niemand so darauf angewiesen, sich die Nachsicht anderer – Worte wie »Freundschaft«, »Liebe« wollte sie gar nicht erst in Betracht ziehen – andauernd und immer aufs neue zu verdienen. Sie erschrak. Letzte Nacht hatte sie kurz vor einer schauerlichen Enthüllung gestanden. Beinahe war es ihr gelungen, zu erblicken, was sie am meisten fürchtete: das Gesicht des Mannes, der kam, sie zu strafen. Groß und dunkel gegen das helle Lichtviereck der Tür war er, wie immer, auf sie zugekommen, da hatte er plötzlich, als riefe ihn jemand an, sein Gesicht zur Seite gewendet, dem Licht zu, daß er fast kenntlich wurde. Da war sie noch rechtzeitig erwacht, von einem Schrei, den diesmal nicht sie, sondern Jonas ausgestoßen hatte. Ruhig, mein Jungchen, sei ruhig. Hier tut dir keiner was. Er war schnell wieder eingeschlafen.
Ganz sicher wußte sie, daß sie nicht auf der Welt war, um glücklich zu sein. Daß ein Kind wie Jonas einmal alsihr eigenes neben ihr liegen würde, wünschte sie mit einer Heftigkeit, die sie erschreckte. Aber wie, wenn Bella, um sich ganz ihrem wunderbaren Talent hingeben zu können, jemanden brauchen konnte, der alles das für Jonas tat, wozu Bella die Zeit nicht hatte? Ihm seine Lieblingsspeisen kochen – die er ja noch gar nicht kannte; die sie erst für ihn erfinden würde –; ruhig und geduldig neben ihm sitzen, während er mit nervenverzehrender Langsamkeit aß. Ihn vielleicht doch dazu bringen, daß er grammweis zunahm. Seine Spiele mit ihm spielen, an deren Unverrückbarkeit Bella schier verzweifeln wollte. Ihm nach und nach, anstelle der Rüstungen, Waffen und Soldaten, einen Ball, ein Stofftier, einen Baukasten unterschieben. Und seine endlosen Folgen angstvoller, insistierender Fragen tagein, tagaus mit Engelsgeduld beantworten: Ob es denn wirklich sicher sei, daß die Sonne nicht auf die Erde falle, eines Tages. Und wer ihm das garantieren könne. Ob es wirklich und wahrhaftig nicht zu einem neuen Krieg kommen werde. Ob seine Mutter nicht sterben werde, ehe er selbst ein großer Mann sei. Ob man ihn nicht, wenn er einmal sterbe, aus Versehen lebendig in den Sarg legen und eingraben werde. Ach, mein Kleiner. Wie schön wir zusammenleben würden, wir drei. Luisa fühlte es täglich schärfer, wie dieses Kind sich in ihr festkrallte.
Was ich bloß wieder denke. Verzeih mir, Antonis.
Im Schlaf konnte Jonas aussehen, wie ein Junge von fünf Jahren aussieht. Sein tagsüber fest zusammengezogenes Gesichtchen konnte sich lösen, die Lippen konnten weich und kindlich sein, selbst der Nasenrücken erschien weniger scharf. Das blonde Haar, das er sonstunter seinem Helm versteckte, fiel ihm über die Stirn, die Arme lagen wie bei einem Kleinkind zu beiden Seiten des Kopfes locker neben dem Kissen. Ach, mein Kleiner. Mein armer lieber Kleiner.
Das große leere Haus, und in seiner innersten Kammer sie, drei atmende Wesen. Luisa konnte spüren, wie ihr Haus, das den langen öden Winter über tot, gestrandet, festgefahren gewesen war, in Rhythmus ihres Atems mitzuatmen begann, ein dunkles altes Tier mit seinem struppigen Rohrdachfell. Oder eine Barke mit roten Flanken und weiß umrandeten Fensterluken, in Fahrt, endlich wieder in Fahrt. Mit der Schneeschmelze hatte sie sich zu regen begonnen, in den Nächten hatte Luisa es wahrgenommen. Ein Ächzen und Knacken, dann ein Rieseln, besonders im Lehmfachwerk am Westgiebel. Es riß an ihr, wie das alte Haus wieder flott zu werden suchte, sich losmachte, an den Leinen zurrte und endlich, als das Grün aufbrach, auf Fahrt ging, Leute aufnahm – Bella, die Schöne, Jonas, ach, mein Kleiner!
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