Sommertochter
Hausaufgaben.
Später am Tag kommt meine Mutter von der Arbeit. Die Post liegt noch
immer unberührt auf dem Küchentisch. Meine Mutter fragt mich, ob mein Tag schön
war, und ich nicke, erzähle nichts von Lena und ihrer Idee mit der Schaukel,
frage nur, ob ich mal wieder zu ihr gehen könne nach der Schule, und meine
Mutter nickt und schaut sich die Post an, und dann hört sie auf zu nicken. In
der Hand hat sie die Karte mit den Segeljachten, sie sieht sie an, als würde
sie überlegen, wer gerade Urlaub habe und ans Meer gefahren sein könnte.
Sie geht ins Wohnzimmer, wo mein Vater noch immer auf dem Sofa
sitzt, als habe er sich seit heute Mittag nicht bewegt. Als meine Mutter ihm
die Postkarte zeigt, schaut er auf, sagt etwas, ich kann nicht verstehen was,
aber sie ist nicht zufrieden damit, sie nimmt die Karte und zerreiÃt sie in
vier Teile.
Meine Mutter bringt einen Goldfisch aus der Stadt mit,
behutsam packt sie das kleine Aquarium aus dem Papier aus, setzt den Filter ein
und füllt es mit Wasser. Sie lässt den schimmernden Fisch aus dem Plastikbeutel
hineingleiten, stellt das Glas auf die Fensterbank und tritt einen Schritt
zurück, betrachtet es und entscheidet sich um. Das Glas steht jetzt auf dem
Sideboard neben dem Goldrahmen. Oft sitzt Mutter abends auf dem Sofa,
beobachtet den Fisch und das Futter, das sich langsam auflöst.
ES IST DAS EINZIGE Foto, das
ich von meinen Eltern und mir habe, wir sind darauf getrennt durch einen Knick.
Meine Mutter, mein Vater und ich sitzen in unserem Wohnzimmer vor unserem
Weihnachtsbaum, ich halte einen neuen Kassettenrekorder in den Händen. Der
Selbstauslöser der Kamera muss das Foto gemacht haben, an Weihnachten war nie
jemand zu Besuch.
Das Mädchen aus der Bar hält das Bild in der Hand und schüttelt den
Kopf, nein, die kenne sie nicht, niemanden davon. Es ist fast zwei Uhr nachts.
Erst jetzt fällt mir auf, dass sie deutsch spricht. Unbeeindruckt gibt sie mir
das Bild zurück, »hier, Vogelmädchen«, sagt sie, und dann sagt sie, sie müsse
jetzt duschen, sie stinke nach Rauch und Alkohol, sie müsse sich die Arbeit vom
Körper waschen.
Das Mädchen zieht das Kleid aus, hängt es an die Leine vor dem Haus,
hängt es auf wie eine Fahne, wie eine Drohung. Sie trägt nur noch eine weiÃe,
schmale Unterhose und das Medaillon auf der Brust. Als sie an mir vorbei unter
die Dusche will, halte ich sie am Arm fest. Ich frage sie, wie sie ins Haus
gekommen sei und was sie hier wolle. »Julie«, sagt sie, streckt mir die Hand
entgegen, »so macht man das doch bei euch in Deutschland.« Ich nehme die Hand,
sage »Juno« und frage wieder: »Was machst du in diesem Haus?« »Es stand leer,
Vogelmädchen«, sagt sie und lässt meine Hand los. Sie sei eingestiegen, sie
brauche doch ein Dach über dem Kopf. Wie lange sie schon hier sei, frage ich,
»eine Woche, vielleicht zwei«, antwortet sie, die Tage am Meer glichen
einander, sie könne es nicht genau sagen. Sie geht zu ihrer Tasche, nimmt eine
Zigarette aus der Schachtel und zündet sie sich an. »Kann ich jetzt duschen?«,
sagt sie, und ich frage: »Warum sprichst du deutsch?« »Weil hier alle deutsch
sprechen.«
Julie stellt das Transistorradio lauter und lässt die Tür zum
Badezimmer offen. Manchmal streckt sie den Kopf hinter dem Vorhang vor und geht
in die Knie, sie nimmt einen Zug von der Zigarette, die in einem Aschenbecher
auf dem Boden liegt.
Julie hat ein groÃes Handtuch um ihren Körper geschlungen,
die nassen Haare schicken Rinnsale über ihr Schlüsselbein. Vor dem Spiegel
stehend kämmt sie sich die Haare. Sie dreht sich, lässt das Handtuch fallen und
steht nackt vor mir, ich kann ihre Rippen zählen, die Beckenknochen stehen
leicht nach vorne. Sie durchwühlt den kleineren der beiden Wäscheberge, zieht
sich ein T-Shirt an. »Ich gehe schlafen«, sagt sie, mit dem rechten Fuà steht
sie schon auf der Treppe, »morgen muss ich arbeiten.«
Ich folge ihr und frage sie, ob ich eine der beiden Matratzen nehmen
kann. Sie nickt. Ich trage die Matratze über die Treppe nach unten, lege sie an
die Wand.
WIR FÃTTERN DIE REHE und
Bisons im Waldgehege, in unseren Jackentaschen haben wir altes Brot. Vaters
Hand ist zu groà für die Maschen im Zaun, meine Finger passen genau durch die Löcher.
Auf dem Rückweg sammelt mein Vater Maroni und Pilze.
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