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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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Lolli aus der langen, schmalen Bonbonniere, die
neben der Kasse auf dem Verkaufstresen steht. Ich schreibe meinem Vater mit dem
Zeigefinger Buchstaben auf seinen Rücken. Er rät U, wenn ich O schreibe, Z,
wenn ich E schreibe.
    AUF DEM MARKTPLATZ IST viel
los. Als ich mir meinen Weg durch die Stände der Blumenverkäufer bahnen will,
vorbei an den Souvenirshops, an den Geschäften, in denen es Strandbekleidung
und Sonnenschirme gibt, Zeitschriften und kleine Fischernetze, tritt ein Mann
vor mich, bleibt einfach stehen und sieht mich von oben bis unten an. »Pardon«, sage ich, will an ihm vorbei Richtung Bar du Matin. Ich gehe einen Schritt nach
rechts, der Mann geht mit, steht immer noch vor mir. »Das Mädchen mit dem
deutschen Kennzeichen«, sagt er, und ich sehe ihn an, sehe die dünne Narbe, die
seinen dunklen Bart zwischen Kinn und Hals zerschneidet, ich nicke: »Da bin ich
hier nicht die Einzige.« Der Mann lacht, seine Narbe zuckt, auch die um die
Augen liegenden feinen Falten bewegen sich, dreißig muss er mindestens sein,
vermutlich eher schon Mitte dreißig. »Ich bin Jan«, sagt er, »du hast meinen
Transporter angefahren.«
    Wir stehen am Tresen der Bar du Matin. Julie ist nicht zu sehen.
Jan hat Kaffee bestellt und leert seine Tasse in einem Zug. Er winkt den
Kellner heran, einen Mann mit weißem Haar, der schon viel zu alt für einen Job
hinter dem Tresen aussieht und der Jan erst mustert, dann aber nickt, als er
erneut bestellt. Mit Schwung stellt er die kleinen Tassen auf den Tisch, fast
schwappt der Kaffee über. Jan ist Architekt. Er erzählt vom Ferienhaus seiner
Großeltern, das hier am Rand von Coulard stehe, von seinen täglichen
Anstrengungen, die zündende Idee für den Umbau zu haben. Er habe es ihnen
versprochen, sagt er. Und wer wisse schon, wie lange er dieses Versprechen noch
einlösen könne.
    Jan bestellt Schnäpse, eine glasklare Flüssigkeit in kleinen,
länglichen Gläsern, der Blick des Manns mit den weißen Haaren bleibt ein wenig
zu lange an mir haften. »Auf das Meer«, sagt Jan, »auf den Transporter«,
antworte ich. Er drückt mir das Glas in die Hand und stürzt seines hinunter. Er
greift hinter die Bar, greift mit seiner Hand in eine Schüssel voll angetauter
Eiswürfel.
    Was ich hier allein wolle, fragt Jan, dieses Dorf sei mittlerweile
doch nur noch für die Familien. Er wartet keine Antwort ab, er fragt, ob ich
schwimme, und nimmt die Hand aus der Schüssel. Ich schüttle den Kopf, »nur
manchmal«. Jans Lächeln zeigt eine Reihe schiefer Zähne. Ich spüre den Alkohol,
das Pulsieren meiner Venen an den Schläfen, ich bewege meinen Kopf zu schnell,
Jans Gesicht verschwimmt. Jan fragt, ob ich Verwandtschaft hier habe, er zählt
eine Menge von Gründen auf, die mich hierher treiben könnten, er fragt, ob ich
mich am Meer erhole oder Ruhe haben wolle. Ich habe hier keine Verwandtschaft
und ich will auch nicht meine Ruhe. Kurz denke ich an meine Wohnung, in die ich
vor ein paar Monaten eingezogen bin. »Ruhe habe ich genug«, sage ich, »ich will
einfach nur zwei Wochen Urlaub machen.« Ich merke selbst, dass es wenig
überzeugend klingt, was ich sage, und Jan merkt es wohl auch. Er unterbricht
mich und nimmt meine Hand. Er sieht auf den Ring, »der passt nicht zu dir«,
sagt er. Es ist ein schmaler, goldener Ring mit einem weißen Stein, der
glitzert, wenn ich die Hand ein wenig bewege.
    Der Ring sei von meiner Mutter, ein Geschenk von meinem Vater, sage
ich, und dass ich ihn mitgenommen habe, als ich letztes Jahr ausgezogen bin.
Fast alle meine Umzugskartons waren schon unten im Hausflur aufeinander
gestapelt, ich wollte nur noch einmal kurz auf die Toilette. Im Bad sah ich
mich im Spiegel an und mein Blick fiel auf den Ring, der im Schmuckkasten
meiner Mutter lag. Ich nahm ihn heraus und steckte ihn in meine Jeans, ich
hatte ihn schon sehr lange Zeit nicht mehr an ihr gesehen. Sie vermisst ihn
nicht oder es ist ihr egal, dass er weg ist, sie hat mich jedenfalls nie danach
gefragt.
    Jan bestellt eine zweite Runde, er fragt mich nach der Narbe im
Mundwinkel, die meinen Mund verbreitert, ich versuche nicht, sie zu
überschminken. »Ein Unfall«, sage ich, und Jan streicht sich mit der rechten
Hand über seine Narbe am Kinn, »ein Unfall«, sagt er, dann stehen schon wieder
Schnapsgläser vor uns, bis zum Rand gefüllt. Der Wodka läuft

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