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Sommertochter

Sommertochter

Titel: Sommertochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seydlitz Lisa Maria
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nichts.
Ich hänge ein und begreife, meine Mutter wird dazu nichts sagen, egal was ich
tue, egal was ich ihr sage, welche Nachricht ich ihr auch überbringe, meine
Mutter wird an Amnesie leiden. Sie wird mir zuhören und schweigen, Anna wird auf
ihrem Schoß sitzen, nach kurzer Zeit wird meine Mutter sie auf den Boden
stellen, weil sie zu schwer geworden ist, sie wird auf ihren Freund warten, der
nach einem langen Tag nach Hause kommt, und dann wird sie sagen: »Ich mache uns
etwas zu essen.«
    IM FRÜHLING HABEN WIR ein
neues Ritual. »Wir machen das jetzt so«, hat meine Mutter zu meinem Vater und
mir gesagt, und wenn meine Mutter etwas so sagt, wird es auch gemacht. Wenn ich
in der Schule bin, warte ich, dass die Schulglocke klingelt und ich zu ihr in
die Buchhandlung fahren kann. Ich trete fest in die Pedale, und wenn ich
ankomme, kleben mir die Haare im Gesicht und mein Herz schlägt schnell.
    Meine Mutter stellt eine Tafel vor die Ladentür. Mit Kreide schreibt
sie »11.30–14.00 Uhr« darauf und den Namen des Gerichtes, das sie sich am Abend
zuvor ausgedacht hat. Ihr Essen ist beliebt, sie hat viele Kunden, die jeden
Mittag kommen.
    Die Glocke über der Tür läutet, wenn ich eintrete. Zuerst sehe ich
die Blumen, die meine Mutter jeden Tag frisch auf der Theke anrichtet, rote
Tulpen in einer weißen Vase, gelbe Narzissen in einer Vase aus Glas,
Weidenkätzchen in einer bläulich schimmernden Flasche. Meinen Schulranzen lege
ich hinter den Tresen. Ich streiche mit der Hand über die alte, große Kasse aus
Eisen. Sie rattert und klingt so schön, wenn meine Mutter die Schublade mit
einem Knopfdruck öffnet, um die Münzen und Scheine in die Fächer zu sortieren.
Ich mag die Buchhandlung, die hohen Regale, aus denen heraus mich die verschiedenfarbigen
Buchrücken und Titel angucken. Manchmal denke ich mir zu den Buchtiteln eigene
Geschichten aus.
    Es zischt und brutzelt in der kleinen Küche. Meine Mutter steht am
Herd, sie hat eine weiße Schürze umgebunden und jongliert mit Pfanne, Topf und
Kochlöffel. Sie schneidet Karotten, Paprika und Zwiebeln in feine Streifen, als
hätte sie eine Großfamilie zu bekochen oder eine Hochzeitsgesellschaft
eingeladen, dabei ist das Mittagsangebot für die Kunden bereits vorbei, nur ich
bin da.
    Der Himmel draußen ist wolkenverhangen, es ist fast dunkel, ich
mache das Licht an. Ich räume die Spülmaschine aus, trage das Besteck zu dem
großen Besteckkasten im Verkaufsraum, sortiere alles so, wie meine Mutter es
mir gezeigt hat. Mit den Messern in der Hand gehe ich besonders langsam, »ich
darf nicht stolpern«, sage ich mir leise vor.
    Meine Mutter ruft durch das Röhren der Dunstabzugshaube, ich solle
meinem Vater jetzt Bescheid sagen, sie wäre bald fertig. Ich drücke die
Wahltasten, es läutet. Ich stelle mir meinen Vater vor, wie er in seinem Büro
vor dem Telefon sitzt, das Telefon betrachtet und sich überlegt, ob er abnehmen
soll. Nach elf Mal lege ich auf, ich weiß, dass er kommen wird.
    Zwanzig Minuten später kommt mein Vater durch die Tür, das Poloshirt
aufgeknöpft, das Gesicht blass. Für uns ist der Tisch in der Küche gedeckt,
meine Mutter kann schnell nach vorne gehen, wenn die Glocke einen Gast
ankündigt. Meine Mutter wartet jetzt wieder auf die Kunden, die zwischen den
Regalen stehen und nichts essen wollen. Sie wartet auf die Kunden, die sie um
Rat bitten, welchen Roman sie lesen sollen, oder fragen, ob sie das neue Buch
von jenem Autor kenne und was sie davon halte. Nur manchmal kommt auch nach
vierzehn Uhr noch jemand, der fragt, ob es noch einen letzten Rest vom
Mittagsgericht gibt, denn das höre sich überaus schmackhaft an. Meine Mutter
verstellt die Stimme, wenn sie abends davon erzählt.
    Mein Vater isst wenig, auch wenn sich meine Mutter besonders viel
Mühe mit dem Essen gegeben hat, das sehe ich daran, wie der Teller dekoriert
ist. Selbst ich esse mehr als er. Meine Mutter beobachtet, wie oft er die Gabel
zum Mund führt, sie versucht, es möglichst unauffällig zu machen. Als Nachtisch
gibt es Kakao, mein Vater trinkt ihn kalt, ich bekomme ihn warm und mit Sahne.
Meine Mutter räumt die Küche auf und spült die Töpfe ab.
    Ich räume das Geschirr vom Tisch, wische mit einem nassen Lappen
alle Krümel weg. »Das machst du sehr gut«, sagt meine Mutter. Sie streicht mir
über den Kopf und nimmt einen

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