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Somnambul Eliza (German Edition)

Somnambul Eliza (German Edition)

Titel: Somnambul Eliza (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Nailik
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Schutzgeste interpretieren,
wie man im mittelalterlichen Aberglauben vor der Brust ein Kreuz zum Schutz vor
Tod und bösen Geistern geschlagen hat. Es ist hier offensichtlich die Abwehr
gegen den Tod gemeint.“
    Wieder nickte Valeriu wie benommen. Ihre
Blicke trafen sich und in seinen großen, exotischen Augen lag nichts von dem
überlegenen Schalk, den Eliza mehrfach in ihnen ausgemacht hatte, sondern
vielmehr eine tiefe Traurigkeit und sie konnte diesem Blick nicht standhalten.
Er kündete von einer entsetzlichen Leere und Eliza musste unwillkürlich zu
Boden blicken, um nicht mit in diesen düsteren Abgrund gezogen zu werden. Sie
konnte diese morbide Stille nicht ertragen und so bot sie an, dass sie ihren
Vortrag gerne abbrechen könnte und dass sie sich vielleicht einem fröhlicheren
Kunstwerk zuwenden sollten. Aber Valeriu lehnte ihr Angebot ab und bat sie
erneut, diesmal geradezu ungeduldig, weiterzusprechen.
    Also setzte Eliza ihren Vortrag fort:
„Zum einen trägt die hintere Gestalt Merkmale des totenköpfigen personifizierten
Todes. Gleichzeitig ist sie aber auch eine Abwandlung der vorderen Figur. Der
Tod erscheint hier also als Doppelgänger. Das Doppelgängermotiv ist eines, das
in den allegorischen Selbstbildnissen Schieles mehrfach auftaucht. Der
Doppelgänger ist ein altes Motiv, das bereits bei den frühen Hochkulturen eine
Rolle spielt. Eine wahre Blütezeit erlebt das Motiv im 19. Jahrhundert während
der deutschen und englischen Romantik. Vom Schutzsymbol mutiert es zusehends
zum Todesboten. Im Selbstseher ist das Doppelgängermotiv mindestens
ebenso düster umgesetzt wie in den Texten der Schwarzen Romantik. Die
Grundstimmung des Werkes ist bedrohlich und morbide. Hier ist der Doppelgänger
nicht nur Todesbote, er erscheint in der Person des Todes selbst. Mit der
Abwehrgeste der vorderen Figur zeigt sich Schiele nicht bereit, dem Todestrieb
nachzugeben. Doch seinem morbiden Alter Ego scheint gleichfalls nicht besonders
daran gelegen. Er umschmeichelt den Lebenden zwar, aber er bedroht ihn nicht.
Die Frage ist, ob der lebende Schiele seinen totengesichtigen Doppelgänger als Bedrohung empfindet oder als Inspiration.“
    Valeriu starrte noch immer völlig
fasziniert auf das Gemälde. Er murmelte etwas und Eliza unterbrach ihre
Ausführungen. Sie musste sich sehr anstrengen, um seine Worte zu verstehen, die
offenbar nicht für sie sondern nur für ihn selbst bestimmt waren.
    „Ja, Bedrohung und Inspiration.“ Und
mehrmals wiederholte er: „Er hat so viel verstanden. Wie war ihm das nur
möglich?“
    Erst dann schien er sich ihrer
Anwesenheit wieder bewusst zu werden und er verstummte augenblicklich. Die
verschiedensten Ausdrücke jagten in Sekundenschnelle über sein schönes Gesicht,
bis er sich offenbar gefangen hatte und schließlich nur sein überirdisches,
aber diesmal unnahbares Lächeln zurückblieb. Eliza fragte sich, was er mit
diesen seltsamen Worten gemeint haben könnte. Doch da es sich eindeutig um
Fragmente eines Selbstgesprächs gehandelt hatte, traute sie sich nicht, ihn
darauf anzusprechen.
    Mittlerweile hatte, wie befürchtet,
Elizas Kollegin Bianca mit ihrer kleinen Gruppe den Raum betreten, verweilte
aber noch vor der Kopie des im Zweiten Weltkrieg verbrannten Fakultätsbildes Jurisprudenz von Gustav Klimt auf der gegenüberliegenden Seite. Aus dem Augenwinkel konnte
Eliza sehen, wie Bianca mehrmals, möglichst unauffällig, zu ihnen hinübersah
und Valeriu aus der Entfernung einer recht genauen Analyse unterzog.
    Valeriu warf einen missmutigen Blick zu
der Gruppe hinüber, aus dem mehr Verachtung sprach, als der Situation
angemessen schien. Dann wandte er sich erneut Eliza zu und mit einem Ausdruck
aufrichtiger Bewunderung und unverhohlenen Wissensdrangs bat er sie, ihre
Ausführungen trotz der Störenfriede zu Ende zu führen. Diesmal fragte er laut:
„Woher kam sein Wissen?“
    Eliza wusste nicht genau, wie sie diese
Frage zu verstehen hatte.
    „Nun, ich denke, Schiele sieht sich in
der Tradition des antiken Egomanen Narziss. Auch er, der übersinnlich und
hellseherisch begabte Künstler, muss den schmerzlichen Prozess des
Sich-Selbst-Erkennens vollziehen, um zu höheren Bewusstseinszuständen zu
gelangen. Der seherische Blick in die eigene Seele kann ebenso grausam sein,
wie der Blick in die Zukunft – birgt er doch die gleichen Gefahren des
Erblickens der eigenen seelischen Abgründe sowie des Todes. Dass dieses
Szenario bei Schiele nicht in einer wahren Horrorvision

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