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Somnambul Eliza (German Edition)

Somnambul Eliza (German Edition)

Titel: Somnambul Eliza (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Nailik
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Abendführung den Psychoanalyse-Saal bevölkern würde. Also
begaben sie sich zu dem Bild, das der Anlass ihres Treffens war und Eliza war
gespannt, ob sich ihr Begleiter tatsächlich so sehr für das Gemälde
interessieren würde, wie er vorgegeben hatte oder ob er andere Gründe hatte,
sie wiedersehen zu wollen. Eigentlich waren ihr beide Varianten auf ihre
jeweilige Weise recht. Es würde ihr gefallen, in diesem überirdisch schönen
Mann einen wahren Kunstliebhaber zu entdecken, der tatsächlich ihre tiefe
Leidenschaft für Egon Schiele teilte. Ebenso hätte es ihr aber auch
geschmeichelt, wenn ein Mann wie er sich nur ihretwegen an Schieles
Selbstbildnis interessiert gezeigt hätte.
    Eigentlich
handelte es sich beim Selbstseher um ein eher unscheinbares Werk mit
nahezu quadratischem Format von etwa 80 mal 80 Zentimetern. Auch wies es keine
eruptiven Körperdrehungen und keine sexuellen Darstellungen auf, die Palette
war tonig. Vor einem unbestimmten Hintergrund mit expressiver Pinselführung
waren zwei Figuren dargestellt, die eng aneinander geschmiegt
hintereinanderstanden. Die vordere Figur stand im Bildmittelpunkt. Ihr Körper
wirkte durch den schmalen Hals und die kantigen Konturen dürr und labil, leicht
nach vorn gebeugt und dadurch bucklig zusammengesunken. Die Figur war in eine
Art dunkle Mönchskutte gewandet und glatzköpfig dargestellt, so dass die vielen
tiefen Falten auf der Stirn stark betont wurden. Die Person kreuzte vor der
Brust die Hände, die Finger waren lang und knochig und übergroß und muteten im
Bereich der Knöchel skelettartig an. Die Haut erschien hier verrunzelt und alt
und man meinte den gelblichen Horn der Nägel zu erkennen. Doch das Auffälligste
an der Figur waren ihre Augen, an deren Stelle lediglich übergroße, rötliche
leere Augenhöhlen saßen. Die nach links versetzt hinter der ersten Person
stehende zweite Figur war deutlich heller und nebulöser gestaltet.
    Mindestens zehn Minuten standen sie
einfach so nebeneinander vor dem Gemälde und keiner von beiden sprach ein Wort.
Eliza fühlte sich an ihre Studentenzeit erinnert, in der solche „Übungen vor
Originalen“ an der Tagesordnung gewesen waren und man bei einer von ihr sehr
geschätzten Professorin oft weit über eine Stunde vor einem Bild stehen und es
auf sich wirken lassen, ja sich in es versenken musste. Anfangs hatte ihr
Kreislauf dabei regelmäßig versagt, doch Übung machte auch in derlei Dingen den
Meister und sie war häufig mit besonderen Eindrücken und tiefen Einblicken
belohnt worden. Heute jedoch war Eliza unschlüssig, ob Valeriu sich in eben
einer solchen Meditation befand oder ob er darauf wartete, dass sie ihm endlich
Erklärungen lieferte. Einen Moment lang betrachtete sie sein wunderbares
Profil, das mit dem langen Hinterkopf, dem vollen, perfekt liegendem Haar und
der langen geraden Nase einen vollkommenen
Scherenschnitt abgegeben hätte. Eine Haarsträhne fiel ihm über die Wange, seine
Augen waren ernst und aufmerksam auf das Gemälde gerichtet, als würde er
Zwiesprache mit ihm halten. Dann schließlich wandte er seinen Blick so
plötzlich von dem Bild ab und Eliza zu, als sei er soeben aus den Tiefen des
Ozeans aufgetaucht. Sie fühlte sich ertappt. Doch sofort nahm er ihr die
Unsicherheit, indem er ihr sein unwiderstehliches Lächeln schenkte.
     „Bitte lassen Sie mich ein wenig
teilhaben an Ihrem Wissen um das Mysterium dieses ungewöhnlichen Kunstwerkes.“
    Also begann sie: „Unser Gemälde nimmt in
der langen Reihe der Selbstbildnisse Egon Schieles eine exponierte Stellung
ein. Es handelt sich um ein besonders verrätseltes Werk mit stark allegorischen Tendenzen. Es fällt insofern aus dem Rahmen, da es
nicht der großen Zahl stark typisierter Selbstportraits angehört, bei denen
sich Schiele mit großen dunklen Augen, mit vollem schwarzem Haar und in oft
sexualisierter Pose darstellt. Schiele ist hier nur ansatzweise in der vorderen
Figur zu erkennen. Die zweite Figur hingegen würde sich allein gesehen nur
schwerlich als Selbstbildnis deuten lassen. Ihren Status als Selbstdarstellung
bezieht sie nur durch ihre Ähnlichkeit zur vorderen Figur.“
    Valeriu war noch einen Schritt näher an
sie herangetreten und hatte das Kinn nachdenklich und konzentriert auf Daumen
und Zeigefinger gestützt. Es war eine vollendete Variante der klassischen
Melancholiker-Geste.
    Dann fragte er: „Warum nennt er sein
Bild Selbstseher ?“
    „Nun, das ist in der Tat eine gute
Frage. Die beiden

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