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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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dieser Welt. Goethe durften wir ja auch nicht sehen, und nachher trugen die Leute das Abbild seiner Leiche auf T-Shirts.
    Und dann das Gerede: Es werde gegen das Testament Friedrichs des Großen verstoßen: Friedrich selbst hat seinen Vater auch anders beerdigt, als der das wollte, und außerdem kann so eine Anweisung auch das Gegenteil bedeuten: Liebt mich doch! – Was ist denn der Unterschied zwischen«kleinem Gefolge» und«den engsten Familienmitgliedern»? Unter«Gefolge»verstand man in absolutistischen Zeiten doch ganz was anderes.
    Weil ich irgendwie gesagt habe, mir sei ganz egal, ob der Alte Fritz in Potsdam oder auf der Burg Hohenzollern begraben liege, schreibt mir eine Frau, sie werde nie wieder ein Buch von mir lesen.
     
    TV: In Berlin wurden vier Jugendliche gefragt, was sie von der Vereinigung halten: Sie sollten die Mauer wieder bauen, aber zwei Meter höher, was da rüberkomme, das sei ja doch alles Schrott. – Vier junge Leute von 3 Mio. Berlinern gelten heute schon als repräsentativ.
     
    «Aspekte»befürchtet Balkanisierung des deutschen Gemütszustandes.
     
    Aus dem Pfui-Glied werde ein Hui-Glied, sagt eine Psychotherapeutin, Frau Herriger, in der N3-Talk-Show.
    Warum? Unter Jungens, wenn sie in den Wald gehen, spielt die Länge eine Rolle. – Ich wurde nie zu einem Vergleich genötigt. In der Hitlerjugend wäre das nicht«gegangen». Dort galt ich als eine«Pissnudel». Was das nun wieder ist? Kann einem heute auch keiner mehr sagen.

Arendsee Sa 17. August 1991
     
    Lesereise. Wir sind in einem FDGB-Heim untergebracht. In einem Glaskasten an der Rezeption hängen noch die Ehrenteller. Man hätte sie entziffern sollen. NVA-Soldaten mit ihrem komischen Helm waren nicht darauf zu erkennen. Es ist übrigens zu erfahren, daß Hitler diese Scheißdinger schon einführen wollte, unser schöner deutscher Stahlhelm! Der Krieg sei dazwischengekommen.
    Lange bequeme Fahrt auf der 71 bis Salzwedel, wo wir uns über den Schlafzustand dieses Kleinodes wunderten. So sah es früher sonntags in mecklenburgischen Kleinstädten aus.
    Die Marienkirche, ach! Wie auf alten niederländischen Bildern. Umgang um den Turm, so was habe ich noch nie gesehen.
     
    Die Lesung in Arendsee war sonderbar. Mit einem Bus aus Soltau hatten sie Zuhörer herangekarrt. Die kleine Kirche war zwar voll, aber aus dem Osten war niemand da. Zwei ungelenke Veranstalter, Riesen-Blumenstrauß.
    Wir waren um 17 Uhr dran, Lea Rosh abends, bei ihr waren sicher eine Menge Leute. Sie hat etwas, was die Deutschen mögen. Sie kamen uns entgegen, als wir vom Konzert aus Gratow nach Hause kamen. Man soll den Deutschen immer die Meinung sagen, aber nicht zu doll. Ich ärgerte mich darüber. Hildegard:«Sie ist doch auch nur eine Sternschnuppe...»
     
    «Spiegel»: Von der Staatsgründung der DDR im September 1949 bis zum Mauerbau im August 1961 hatten 2 691 270 DDR-Bürger das Land verlassen, die Hälfte von ihnen unter 25 Jahre alt. 3371 Ärzte, 16724 Lehrer, 17 082 Ingenieure hatten sich nach Westen abgesetzt. Interessante Zahlen. Wo sie die wohl herhaben? Gibt’s da ein Amt, in dem Beamte sitzen, die eine Strichliste führen?
     
    Die Särge der Preußenkönige sind mit einem Pfeifkonzert in Potsdam empfangen worden. Das ist nun auch wieder nicht richtig. Die langen Friedensjahre an seinem Lebensende. Und letzten Endes hat sein Leben dazu getaugt, Menzel schöne Bilder malen zu lassen.
    Und was tun wir? Wir lassen die Denkmäler der Kommunisten stehen und benennen Straßen nach ihnen. Gibt’s in Berlin eine«Friedrich-der-Große-Straße»?
     
    Neulich in Wotersen unterhielten sich zwei Damen über Frösche und Kröten, wie sie sich begatten. Direkt daneben übte ein Streichquartett aus Petersburg seinen Auftritt, junge Leute, die ich nach Nartum einlud.
     
    Walser vor der Sixtinischen Madonna in Dresden.
    Wie gut, daß sich durch das bloße Angucken keine Farbpartikel lösen, denn wenn das so wäre, gäb’s das Bild bestimmt nicht mehr. Eigenartig die Gardinenstange oben und die beiden lustigen Engel unten. Engelsköpfige Wolken zu malen – das ginge heute, glaub’ ich, nicht mehr.
     
    Sindermann, der ehemalige Präsident der Volkskammer, der die chinesische Zusammenschießung auf dem Platz des Himmlischen Friedens wunderbar fand, wurde gezeigt, wie er mit seinen Kindern Weihnachten feiert. – Wie die wohl das Jesuskind benannt haben?
     
    Im Fragebogen der FAZ erfahren wir, daß der Ministerpräsident Erwin Teufel es mit den

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