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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Mit drei Mann hoch waren sie gekommen.«Frau Rosh (die Ross heißt, nicht Rosch) verzichtet auf ihr Honorar …»Bravo! – Ich auch, aber kein Bravo. Ich gelte als steinreich.
    Hildegard wurde ganz blaß im Gesicht, als sie die Rosh sah. – Gehört sie zur linken Klientel an den Sendern? Jedenfalls ist sie sehr gefragt.
     
    Im«Spiegel»steht, daß im Irak 35 der 170 toten Amerikaner von den eigenen Leuten umgebracht wurden.
     
    Tangermünde sehr norddeutsch. Sehr vorkriegisch, aber auch allerhand Jahrhundertwende, was man nur identifizieren kann, wenn man vorher den Stadtführer liest.
    Gebackenen Camembert gegessen, neben einem dudelnden einarmigen Banditen.
     
    «Sparte Rassegeflügel»(Aushang).
     
    Immer noch Tangermünde.
    Viel Abgebrochenes und Zugeschüttetes. Das Übriggebliebene ist, wie überall, nur Zufall.
    Hildegard wundert sich über die verschiedenen«Dachanschlüsse», daß die Dächer zwar alle gleich hoch sind, aber nicht die gleiche Schräge haben, und sie hat sich angeguckt, wie die Leute den Anschluß abgedichtet haben.
    Mir gefällt die Abriegelung der Straßen durch querstehende, besonders schöne Häuser oder Tore oder Kirchen.
    Ein Jeans-Opa mit im Nacken gebündeltem langen, weißen Haar, neue Videotasche um Schulter – Videoapparat in der Hand -, Zähne nur noch lückenhaft im Mund. Flowerpower-Generation? Offensichtlich gewesener Edelkommunist? Oder das Gegenteil? Wer kennt sich da aus.
     
    Ein junger Mann zur Wiedervereinigung:
     
    Im Osten sind wenigstens keine Ausländer.
    Buchhändlerin zählt mir die Industriebetriebe Tangermündes auf, die alle dichtgemacht haben. Unangenehm.
    Warum muß das sein? fragt man sich. Und warum erzählt sie uns das? Zerstört uns unsere spaziergängerische Stimmung.
     
    Jerichow
    Schlangen – Vogel – Hase
    Ein kleines, nach Jauche stinkendes Dorf und dieses Himmelreich. Die klare Stirn.
    Mädchen, die ohne jede Hemmung sich den Schlüpfer aus dem Schritt ziehen.
     
    Die Kirche ist ein Grabmal, dessen Leichnam verschwunden ist. Kreuzgang vollständig erhalten, plus Nebengebäude, Refektorium etc.
    Unser Haus ist eine Umkehrung des Kreuzganggedankens. Innenhof andere Pflasterung.
    Hier haben die Dänen gehaust, eine Woche hat genügt, sogar die Grüfte aufgebrochen. Christen untereinander.
    Mit Hildegard sich zu verabreden ist oft mißlich. Ich habe eben Viertelstunde auf sie gewartet. Sie war ganz woanders.
    Soltau
    19 Uhr.
    Inzwischen sind wir in Soltau gelandet und warten auf das Essen. Filetplatte mit Kroketten. Ach, in Belgien haben wir mal Kroketten gegessen …
    Das Schönste an dieser Reise war die Marienkirche in Salzwedel. Ich fand eine alte Anstecktafelzahl im Schutt, die nahm ich mit.
     
    Meyns Hotel. Schifferklaviermusik über den Lautsprecher. Wir fragten den Kellner, welche Tische den Gästen die liebsten sind. Hildegard meinte, er würde sagen:«Das kann ich so nich’ sagen...»Er wußte es aber ganz genau!
     
    In Salzwedel gefiel uns die (heizbare) Fünte nicht (Marienkirche). Der Umbau um den Turm war bei der ansonsten sehr verbumfeiten Katharinenkirche besser.
    «Man kann sich in Grundrisse verlieben», sagt Hildegard. Aber eine Vorstellung der Raumwirkung könne man dadurch nicht haben.
     
    Hier werden die allerhäßlichsten Gemälde angestrahlt, man kann ja nie wissen!
    Jerichow ziemlich kaputtrestauriert. Da fehlt Efeu, der würde alles gnädig zudecken.
    Die Öffnungszeiten sind sonderbar im Osten. Gewöhnlich ist alles gerade zu oder noch nicht offen. Durch dieses System wird aber auch Freude gespendet, wenn man nämlich eine offene Tür vorfindet. Ich gehe immer einmal rum, und hinten ist dann meistens ein Türchen offen. So wie beim lieben Gott, der wird uns am letzten Tag wohl auch eine Pforte offenhalten.
     
    «Diese Heidekartoffeln machen der Heide keine Ehre», sagt Hildegard.«Sie sind wäßrig!»
    Sie ist voll auf Ökologiekurs. Sie hat die gebrauchten Servietten eingesteckt für die Küche, den Fettrand von der Abwaschschüssel abzuwischen.

Nartum Mo 19. August 1991, bedeckt
     
    19.8.91 (komisches Datum!)
     
    Die Russen haben geputscht und den armen Gorbatschow verhaftet. Bittel berichtete es mir. Damit hatte man rechnen müssen, aber die Bundesregierung traf das alles mal wieder völlig überraschend. Daß da niemand sitzt und für eventuelle Fälle Verhaltensrichtlinien ausarbeitet. Der Dollar ist sofort gestiegen. Aber wenn man den dann kauft, fällt er augenblicklich.
     
    Ein Ehepaar aus

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