Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

haben jetzt eine 100-Millionen-Pleite hingelegt. Fallen solche Leute weich? Wahrscheinlich machen sie erst mal Urlaub.
     
    Drüben werden jetzt 100 000 (?) Lehrer entlassen, die Stasi-Aufpasser waren.
     
    Die Italiener lassen tausende Albaner in einem Stadion schmoren, ab und zu wird ihnen ein Brötchen zugeworfen, kein Wasser, keine Toiletten. Ich stelle mir vor, das geschähe in Deutschland.
     
    Das nächste Attentat wird vermutlich auf Gauck verübt.
     
    Der Kabarettist Hildebrandt wurde gefragt, was er zur Beschimpfung Bölls sagt. – Das sei genauso schlimm wie das, was Fest jetzt mit Bloch versucht habe.
    Blochs«kategorischer Imperativ mit dem Revolver in der Hand»(Goebbels:«Wer nicht für uns ist, ist gegen uns») hätte eigentlich die«skeptische Generation»aufhorchen lassen müssen.
    Er selbst tue das doch auch, Menschen vernichten, wird gesagt. Iiih wo, er biete den Menschen nur Bonbons an, über die sie sich freuen könnten.
     
    2007: Jetzt stellt sich heraus, daß er Mitglied in der NSDAP war. Davon habe er nichts gewußt, sagt er, wie Walser und Lenz.
     
    In den TV-Nachrichten wird gezeigt, wie ein Dackel aus einer Röhre befreit wurde.
     
    Einen Fall von Panikmache glorios überstanden. Bertelsmann – Geiger – Bittel – Dede – Paeschke.
    Hildegard sagt, ich würde bestimmt noch mit 80, als zahnloser Opa, zum Lesen eingeladen, jetzt in Mecklenburg hätten sie bestimmt Bedarf.

Nartum Di 13. August 1991, feucht
     
    I87I: Karl Liebknecht, hervorragender Führer der
Arbeiterklasse, geboren
I9I3: August Bebel gestorben
I96I: Schutz der Staatsgrenze der DDR
    30 Jahre her, der Mauerbau.
     
    Engholm, diese Schlafmütze. SPD kann einem leid tun.
    Der letzte Jahrestag der Mauer. Jetzt isse weg. Kann mich gar nicht mehr erinnern. Das Bild von der Greisin, die sie oben vom Fenstersims nicht fortlassen – unten ziehen sie an den Beinen. Ratlos. Sie soll übrigens zu Tode gestürzt sein, wird erzählt. Leute mit Schiebermütze. – Das mischt sich jetzt mit anderen Bildern, die man im TV gesehen hat. – Die Ungarn-Sache, ČSSR-Besetzung ist mir deutlicher in Erinnerung.
     
    Hildegard kaufte in Zeven Baumkuchenspitzen und dieses famose holländische Käsegebäck, das ich immer so gern esse, was rasend gut schmeckt, wie Hildegard sagt. Außerdem gab es zur Suppe gebratene Weißbrotwürfel.
     
    Die Katzen, die sich sonst nicht anfassen lassen, darf ich gerne packen, wenn ich sie ins Fenster zum Futter setzen will.
     
    Blöde Einladung aus Leipzig zu einem Schriftstellertreffen. Offenbar (Friedrich-Ebert-Stiftung!) hat man sich erst zu allerletzt meiner erinnert:«Ach ja, den Kempowski gibt’s ja auch noch!»
    Einladung von Fechner zu dessen 65. Geburtstag. Er will alle Menschen versammeln, die in seinem Leben eine Rolle gespielt haben. Immer noch Fanpost zum«Sirius». – Der Verlag hat meine Lesereise mit«Sirius»angekündigt. Von M/B haben sie anscheinend noch nichts gehört.
    Der Buchhändler Babendererde hat geschrieben, daß er seine Buchhandlung in Rostock nicht wiederkriegt. Er ist außer sich.’46 enteignet. Obwohl er 2 Mio. geboten hat. – Dort haben meine Eltern als Jungverheiratete schon eingekauft (siehe«Schöne Aussicht»). Im ersten Stock gab es Wiking-Modelle: Schlachtschiffe, U-Boote usw. Damit sollte die Jugend erzogen werden.
    Viel Klagen über die Treuhand. Undurchsichtig oft, was die da anstellen. Nur gut, daß wir unser Haus ruck, zuck … Wahrscheinlich ist die Aufgabe zu groß für so ein staatliches Amt.
     
    TV-Film über die Mauer, Fluchtversuche.
    Daß hinter der Mauer stählerne«Igel»lagen, wußte ich auch noch nicht. 12 cm lange Spitzen. – Nach und nach kommt alles raus.

Nartum Mi 14. August 1991, schön
     
    I956: Bertolt Brecht gestorben
    Die Magnesiumtabletten helfen mir sehr. Das ist ja eine regelrechte Wunderdroge.
    Morgens an M/B, dann«Echolot». Mittagsschlaf durch wahnsinnige Bellerei der Hunde unterbrochen.
    Ein schöner Traum wirkte in den Tag nach.
    FAZ: Ein Artikel über die in der SU liquidierten jüdischen Künstler.
    «Kleine Liebe zu Trompeten»könnte auch ein schönes Buch abgeben. Der Dorfroman rückt in weite Ferne. Ich fühle mich durch die Prüderie der deutschen Leser behindert.
     
    2007: Trompetenbuch habe ich erst jetzt wiederaufgenommen. Ich schreibe lauter letzte Bücher. Hoffentlich hat das keine Folgen.
     
    Gestern und heute wurde die«Mauer in den Köpfen der Menschen»ausführlich zitiert und beschworen.
    Allgemein hört