Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Gummersbach. Ich entdeckte mit Schrecken, daß ich nicht mehr zuhören kann.
     
    TV: Das war ein Tag. Stundenlang wegen Gorbatschow.
    Ich empfinde die ganze Sache als eine Blamage.
    Wann sind wir soweit, daß einem alles egal ist? Früher sagte man: Rutscht mir den Buckel herunter.
    Es sieht so aus, als ob die Familie in einem Campingwagen Urlaub gemacht hat. Die kleine Tochter habe gerade getanzt.

Nartum Di 20. August 1991
     
    Nun rühren sich auch die Deutschen, das wird auch Zeit. Menschenmassen in Moskau und Leningrad. Sie erwarten einen Gasangriff. Tausende von Panzern seien im Anmarsch. Die Sowjetunion soll wiederhergestellt werden.
    Die armen Balten. Tragisch. Aus deren Befreiung wird nun wohl nichts.
    Eifrige Zivilisten erklären den Soldaten auf den Panzern die Verfassung.
    Gerd Ruges große Stunde.
    Auf einmal tauchen Lebensmittel in Moskau auf, sogar Räucherlachs gibt’s. Man hat den Putschisten Gas und Wasser in den Wohnungen abgestellt.
     
    Sehr viele Pfeile habe die EG wohl nicht mehr im Köcher, sagt einer in Brüssel.
    Weibliche Ehrenposten.
     
    RTL:«Die Welt hält den Atem an!»
    3Sat mehr oder weniger kalt, ob wir alle uns schon an ein freundliches Haus Europa gewöhnt hätten.
    Auch Radio Free Europe versucht Kontakt aufzunehmen und zu senden. War das nicht der Sender, der von der SPD abgesägt werden sollte?
    An die chinesische Lösung wird erinnert.
    3Sat:«Wenn wir untergehen sollen, werden wir die ganze Welt mitreißen!»sagte ein sowjetischer Oberst. Er beneide den Westen nicht.
    Zwei der Putschisten haben sich krank gemeldet.
     
    22 Uhr
    Über Deserteure in SU. Naive Jungs, die man geschlagen hat, Nationalitätenkonflikte in der Armee.
    Jasow ist zurückgetreten, heißt es.
    Kann man sich nicht vorstellen.
    Putschistengruppe sei zersplittert.
    Demagogen, stehend auf Panzern, rhythmische Rufe, erhobene Fäuste.
    Würstchenmassen -«aber Hunderte von Schaufenstern seien leer, so leer wie die Straßen am Kreml».
    Eigentlich müßte in den neuen Bundesländern doch auch jemand nach Gorbatschow rufen. Solidarität. Aber hier geht niemand für den guten Mann auf die Straße, der uns die Wiedervereinigung beschert hat. Ist er vielleicht ein bißchen dumm?
    Bei 3Sat fällt das Wort«Machtergreifung».
    Das«Heute-Journal»endete elegisch, in Zeitlupe junge Mädchen, Demonstranten, Stacheldraht.
    Die«Rücktritte»wurden dementiert.
    «Gerüchte schwirren durch die Stadt.»
     
    150 m lange Fahne Rußlands wird von den Putschisten getragen. Woher haben sie die so schnell hergekriegt?
    Jelzin mit kugelsicherer Weste.
    Wieso hatte Gorbatschow eigentlich keine Leibwache?«Bleiben wir auf dem Boden der Spekulation»(Sabine Christiansen).
    «Reinen Tisch machen»(Roth).
    Im ZK konnten sich die Anhänger der Putschisten nicht durchsetzen.
    «Dieser Terminus mundet uns nicht!»(ein ZK-Mitglied).
    Die Zahl der Demonstranten«wuchs»(Sabine Christiansen).«Meldungen des Schreckens jagen Meldungen der Zuversicht, solche der Hoffnung die der Skepsis»(Brender).
    «Kommt eine Blutnacht?»(Brender).
    Aus der Schulzeit erinnert er sich vielleicht noch an Heinrich IV., die Abschlachtung der Hugenotten.
    «Weniger wäre mehr gewesen», dieser Spruch soll von Lenin stammen? – Das wird man auch zu meinem«Echolot»sagen.
    Man müßte die einzelnen Schritte dieser Dramen mal nebeneinandersetzen. In China haben sie damals auch nicht geglaubt, daß die Soldaten schießen werden. Und dann haben die Panzer plötzlich Gas gegeben.
     
    Heute früh flau im Kopf. Langer Mittagsschlaf. Am Nachmittag dann gut gearbeitet.
    Kurzes Telefonat mit Paeschke, der gar nicht begreifen konnte, was ich von ihm wollte.
     
    Es sei ein ganz altmodischer Putsch (Zeitungsschau).
    T: Im Traum bin ich mal wieder entlassen worden. Kurz vorm Rauslassen brachte mir einer noch Sachen, die ich eigentlich nicht hätte mitnehmen dürfen: sechs Kissenbezüge, mit chinesischen Motiven (Urlaub) bestickt.

Nartum Mi 21. August 1991
     
    1948: Aufnahme der FDJ in den Weltbund der
Demokratischen Jugend
    Mazowiecki hat gefordert, daß die Russen noch bis 1993 in Polen bleiben, denn nur sie könnten garantieren, daß die Deutschen die Abmachungen über Oder/Neiße einhalten. Nun sitzen sie da!
    Ketzerische Gedanken! Man stelle sich vor, man bekäme Westpreußen, Ostpreußen, Schlesien wieder. Das könnte man doch gar nicht verdauen! Wo schon die Treuhand mit der DDR nicht klarkommt.
     
    Hildesheimer ist gestorben. Er habe zahlreiche Prosawerke

Weitere Kostenlose Bücher