Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
mir etwas zu komisch geraten?«Mit deinem Konjunktiv geht’s ziemlich durcheinander», meint sie.
Frau Frohriep hat uns leider verlassen. Sie war sehr tüchtig.
2007: Nie wieder von ihr gehört.
Lesefrucht:«Wollte sie die Unfruchtbarkeit ihres Leibes ausnutzen zu folgenlosem Geschlechtsverkehr?»
Salzgitter Mi 2. Oktober 1991
Höchst öde alles, ich irre in der Stadt herum, Läden gähnend leer. Ich kaufte mir eine Windjacke, da den Mantel vergessen. Riesending mit 20 Taschen. Der Chef wollte den Laden gerade schließen, da komme ich des Wegs. 200 DM hat das Dings gekostet. Hat er seiner Frau beim Abendbrot erzählt: Stell dir vor …
Ein Mädchen, 18 Jahre, zur Wiedervereinigung:
So und so. Das hat seine guten und schlechten Seiten.
Nirgends is der Wald so schi,
uns zieht’s nach d’o Hamit hi!
All die jährlichen Toskana-Fahrer haben davon keine Ahnung. Wo das Erzgebirge liegt, mit seinen freundlichen Menschen, wissen sie bestimmt nicht.
Salzgitter Do 3. Oktober 1991
I969: Eröffnung des Berliner Fernsehturms
I979: Eröffnung des Pionierpalastes«Ernst Thälmann»
in Berlin
Gestern nacht noch Wallraff gesehen, den Musterknaben. Er hat zu seiner dritten Hochzeit das nahe Asylantenheim eingeladen. Tue Gutes und rede davon. Biolek hatte das auf seinem Fragekärtchen stehen.
Ob die abgetanen Ehefrauen eines Tages Autobiographien verfassen?
Die Bilder zum Tag der Einheit wirken schon jetzt so, als seien sie zur Jahrhundertwende gemacht. – Man mag gar nicht hingucken. Hätten sie den 9. November genommen, wäre es anders gewesen. Der Kalender stand dem entgegen.
Die Befrachtung des Datums. Duke Ellington hat mit mir am selben Tag Geburtstag, und deshalb höre ich ihn trotzdem nicht gern. Yehudi Menuhin hat ihn mal im Flugzeug getroffen, wußte nicht, wer das ist, Duke Ellington. Und der hat ihn zu seinem Konzert eingeladen, und dann haben sie zusammen musiziert. Menuhin hat auch mit Stéphane Grappelli zusammen gespielt.«Jalousie», was für ein schöner Titel. Er begleitet mich seit frühester Kindheit.
Von ihr, der Eifersucht, blieb ich bisher verschont.
Hotel«Zum Alten Fritz», absolut mies. Nun ja, ich wurde von der GEW eingeladen, da mußte ich mit so was rechnen. Obwohl die Funktionäre sich gewiß etwas Besseres genehmigen.
Neulich wurde ich im Radio gefragt, was ich gegen Schlager habe. Nun, ich zog vom Leder, und da sagte der Reporter:«Vorsicht!»(Verbrennen Sie sich nicht den Mund!) Alte Schlager, ja, das ist was anderes. Melodien, Texte, mit denen man aufgewachsen ist. Aber jetzt, dieses Terzengedudel.
Es gibt im TV einen alternden Jüngling, der hat sich auf alte Schlager spezialisiert. Der sitzt in seiner Marktlücke und winkt Heino zu.
Regentropfen,
die an dein Fenster klopfen,
das merke dir,
sie sind ein Gruß von mir …
Um 11 Uhr gestern nacht ein Film über Tierquälereien!
Gestern vormittag signalisierte Bittel, Paeschke habe meinem Vorschlag zugestimmt. Sehr schön.
Investitionen in diesem Jahr waren enorm. Die Deckenverkleidungen im oberen Stock, die Glastüren, der Zaun, die zusätzlichen Spiegel im Saal, der neue Fußbodenbelag. Dementsprechend die Unruhe, mit der man den Brief von der Bank aufreißt.
Jetzt nennen sie die«Einheit»eine«Gemeinheit». Gott, das ist Deutschland! Nach 1871 hat sich auch so mancher geärgert. Bis dahin war man Pommer, Schlesier, Westfale, nun mußte man auf einmal Deutscher sein? Das schmeckte manchem nicht.
Zwei Anhalterinnen, die eine Bäckerlehrling, die andere Konditorin. Beide von Rügen, die eine seit einem Monat im Osten, die andere gestern gekommen. Ich konnte sie fast bis vor die Haustür bringen. Sie waren«guten Mutes». Ob ich Musiklehrer sei, wollten sie wissen.
Lesung gestern in Salzgitter fand in einer säkularisierten Kirche statt. Halb besetzt der Raum, ich las nur aus«Sirius». Hinterher zunächst freundliche Unterhaltung, dann Anlaberungen. Das sei ja ein Sammelsurium, man vermisse eine Richtung oder ein Ziel.
Ja, das wollen die Deutschen, und dann laufen sie doch in die falsche Richtung.
In Salzgitter-Bad alle Läden absolut leer von Menschen, aber knallvoll mit Waren. Der Mann, bei dem ich die Jacke kaufte, war heilfroh (218,-).
Nun ist es 10 Uhr, und der ganze Tag liegt vor mir, kein Geschäft offen. Vielleicht sollte ich nach Göttingen fahren?
Jan Hauser, ein Mensch, der Geld von mir ziehen wollte.
Göttingen
Graffiti:
Stammheim muß
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