Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
hatte, ging ja gerade das Gegenteil hervor, ich flippte also aus und verließ das Lokal in Unfrieden. Der Direktor lief mir händeringend nach. Übrigens, als wir kamen, wußte niemand etwas von uns. Es mußte aufgeschlossen werden.
Der Abend verlief dann wesentlich glücklicher, zwar nur ein sehr kleiner Kreis – vielleicht 30, 35 Personen in der Stadtbibliothek -, aber«zutunlich». Die Frau des unglücklichen Professors Marquardt war da, der Bloch-Schüler, tatsächlich in den ganzen Jahrzehnten keine vernünftige Stellung, hat sich so durchlaviert. Mußte in einer Fabrik arbeiten.
Auch Studenten, mit Freundin usw.
Witt wurde am Abend noch gesprächig. Er erzählte eine lange Story von Peter Weiss. Er sollte ihm ein 25 Kilo schweres Paket mit irgendeiner zu signierenden bibliophilen Sache bringen, kriegte aber kein Geld für die Reise, das mußte er sich von seiner Schwägerin in Westdeutschland besorgen. Weiss sei sehr unfreundlich gewesen, habe ihn nicht abgeholt, ließ ihn das Paket allein schleppen, trotz der Einarmigkeit. Sei wohl enttäuscht, daß die DDR-Leute nicht in einer«Karosse»vorgefahren waren und nur so einen«kleinen»Mann schickten. Hat ihm weder Essen angeboten noch zu schlafen, obwohl zwei Wohnungen … Er habe bei einer Bekannten schlafen müssen. Das sei seine erste Westfahrt gewesen.
Aus dem Gespräch ging hervor, wie paktiererisch Weiss mit den SED-Leuten umging.
Lange Geschichten glitten an mir vorüber. Was für eine stille Beharrlichkeit muß dazugehört haben, den täglichen Unbill in der DDR durchzustehen. Und nun Schwamm drüber, nun sind die andern, Glatten an der Reihe, sich einfach einfädeln lassen? Die Schuld, die sich hier aufgehäuft hat, ist ungeheuerlich. Das kommt davon, wenn man von Menschen Ausrichtung verlangt auf Deubel komm raus.
Nun hat sich Helga Novak selbst bezichtigt. Sie wär’ auch Zuträgerin gewesen. Angriff ist die beste Verteidigung. Warum denn auch nicht? Das ist neu in dieser Debatte.
Die SED-Leute hätten immer den Mittelmäßigen bevorzugt.
Begabte seien von vornherein verdächtig gewesen.
Die Leiterin des Reisekaders, der Cheflektor, dessen Steckenpferd Geographie: Wo liegt Nepal, statt Fachgespräch.
Jeder Plan habe schön aussehen müssen. Soundso viel % Arbeiter-Sachen, % Klassik, % Jugend usw. Ulbricht habe er gesehen auf Messe, vorher alles leer.
«Brogilus»,«Unikat»und«Vignette», so heißen die Lokale im Hotel«Stadt Leipzig».
«Das is’n 4menwagen», hinten am Lieferwagen.
«Datsche»wär’ das einzige Wort, das aus dem Russischen übernommen worden ist.
Im Leipziger Klo:
Kannst du nicht scheißen,
darfst du auch nicht reisen.
Ihr roten Säue.
Mit kleinem Latrinum wär’ das nicht passiert.
Biermann hat ziemlich um sich geschlagen. Er hat ausgerechnet, daß die Stasi viermal soviel Spitzel wie die Gestapo gehabt hat. Mit solchen Rechenaufgaben kommen wir nicht weiter. Zimmer hat wesentlich gemessener Leviten gelesen.
Im Johannes-R.-Becher-Haus, der Schriftstellerschule, einer verwohnten Gründerzeitvilla. An sich beeindruckend, diese Kümmerlichkeit. Und wenn man bedenkt, daß einst sogar Sarah Kirsch hier«ihr Handwerk gelernt hat»?
«Der Minister»in Dresden will das Institut schließen, oder er hat es schon getan, weil man das Dichten nicht lernen könne. Nun soll ein Nachfolgeinstitut an der Universität gegründet werden. Die drei Dozenten sehen mich bitter lächelnd an. Ich weiß ja nicht, wie sie ihren Auftrag nutzten, es interessiert mich auch wirklich nicht, aber glauben tut man’s schon, daß diese Leute sozialistische Filteranlagen betrieben, die Versuchung war sicher groß, und einen Auftrag zur Indoktrination hat es vermutlich auch gegeben.
2007: Inzwischen gibt es Literatur darüber (Czechowski).
Eine Zuhörerin fragte mich nach der Lesung, ob ich Atheist sei.
Das nicht. Ich bin«kultureller Christ», wie Thomas Mann es ausgedrückt hat (1934).
Rückflug von Leipzig Di 29. Oktober 1991
I9I8: Gründung des Komsomol, der sowjetischen
Jugendorganisation
Im Propellerflugzeug, acht Passagiere. Ich sitze ganz hinten in dem leeren Flugzeug. Zwei Ausländer steuern genau auf meinen Platz zu (vorn alles frei), zwei Italiener, und fangen augenblicklich an, sich in ihrer Tonart unterhaltlich anzuschreien. Ohropax half nicht, ich mußte umziehen. Das hat die nicht interessiert.
«Mein Herr, was sagen Sie zu der Ausländerfeindlichkeit der Deutschen?»
Ich glaube nicht, daß die
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