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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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er schließt sofort alle Zimmer ab, mit allen Sachen, sie können nichts mitnehmen. – Er sei erst bei der Ausweisung Nazi geworden.
     
    «Hausschlachtene Wurst aus Sachsen.»
    Seine Taktik war klar: Sie schieben alles auf die Stasi.
    Er meinte, Unternehmer kämen zurück in die DDR, die früher arisierte Betriebe besessen hätten!
     
    Ein niedlicher blonder Pikkolo. Hat, anders als die Serviermädchen, etwas Spielerisches an sich, macht sich einen Spaß aus dem Servieren. – Ich sag’:«Die Brötchen schmecken ja wundervoll! Würden Sie mir bitte noch eins besorgen?»Da bringt er einen ganzen Korb voll und lacht mich an.
     
    Das Nelkenjahr in Bautzen. Nein, es war nicht die reine Hölle.
     
    Man sollte die Lenin-, Marx- und Thälmann-Denkmäler nach Torgau, Waldheim und Bautzen schaffen. – Stalin-Denkmäler gibt es nicht mehr. Wo sind sie geblieben?
     
    Jetzt schmeißt der Pikkolo eine leere Teekanne hin. Kein Gast verzieht eine Miene. Die Mädchen lachen, laufen in die Küche und lachen. Gott, ist das ein drolliger Kerl!
    Ein kleines verstrubbeltes sächsisches Ehepaar in Überlebenskleidung.
    Die erleben hier die Wessis auch ganz einseitig. Höflichkeit, Heiterkeit fehlt, wer hierherkommt, will was erreichen.
     
    Witt versteht nicht, wo die Neo-Nazis überhaupt alle herkommen. Kein Mensch traue sich abends noch auf die Straße. Diese brutale Gewalt! Und der Staat sei machtlos. Ich sagte:«Ja, und früher war es umgekehrt.»
     
    Frau am Nebentisch schnaubt sich in die Serviette aus.
    Die Plüschpracht des Stasi-Staates.
    Der SS-Staat und der Stasi-Staat.
    Im Antiquariat:
    «Haben Sie noch Blätter aus der Agitprop-Zeit?»
    «Nein, die hatten wir nie.»
    Ein Mann mit Baskenmütze verspricht, mir welche zu schicken.
     
    2007: Nie wieder was davon gehört.
     
    Richtung Markt, kurz vor Auerbachs-Keller-Passage. Thomas-Kirche, gegenüber Bach-Denkmal. Einmal durch die düstere Kirche gegangen.
    Reste der DDR-Mentalität, Läden machen zum Teil zu Mittag zu. Die Antiquariate! – Nichts weiter gefunden.
    Ein verrücktes Café, düster, weitläufig, mit einzelnen Tischen hier und da.
     
    Dietrich, der Bildhauer, erzählte von Wangerooge, das sei ja nichts weiter Besonderes gewesen, aber die Drachen, Hunderte von Drachen, und sie da, als DDR-Trupp mit acht Mann, die Westdeutschen hätten die Drachen immer extra vor ihnen runterfallen lassen. (Nicht ganz kapiert, klingt nach Verfolgungswahn.)
    «In Jever so hübsch, eine Laterne, daneben Papierkorb und das Pflaster so niedlich drum herum», sagt er. – Jever. Ich kenne nur das Bier, und das mag ich nicht.
    Er machte vor, wie früher die Omas aus dem Westen zurückgekommen seien, Bahnhof bei Ankunft des Zuges aus Hamburg schwarz von Menschen. Hin konnten sie allein gehen, aber zurück, den Arm voll Bananen und Kisten und Kasten und Pakete:«Oma, darf ich dir was tragen?»
    Neulich sei ihm eine Freundin begegnet mit drei Bananen, die habe quasi entschuldigend gesagt:«Ich ess’ die Dinger wirklich gern.»
     
    Witt, daß die Deutschen noch bis 1946 weiße Armbinden tragen mußten in Schlesien. – Wo steht’s geschrieben? Wer hebt’s auf? Wer sagt es den anderen?
    In der Grimmaer Straße zwischen den ruhig und gemessen dahinschreitenden Menschen ein Rudel Zigeunerkinder, bettelnd.
     
    Witt: Die Demonstrierer im Herbst 1989, da wären keine Ordner gewesen, alles diszipliniert und ohne Gewalt. Es wurde deutlich, daß er noch von seiner Begeisterung zehrte. Merkwürdig, daß die Menschen keine Verbindung herstellen zwischen der jetzigen Misere und der SED-Herrschaft. Ursache und Folgen.
    Er verglich den westdeutschen Literaturfonds mit den Stipendien, die hier«Dichter»bekommen hätten.
    In Schlesien alle deutschen Bücher auf einen Haufen und angezündet, die Polen, er hätte sich danebengesetzt, weil die nicht richtig brannten, und hätte«Lederstrumpf»gelesen.
    Die drei Bücherverbrennungen. Es kommt noch die Vernichtung der DDR-Literatur hinzu, 1990, durch die Verlage.
    Das Sächsisch hört sich gut an, mag das hören. Gehe hinter den Leuten her, wie früher mein Urgroßvater hinter Herren, die Zigarre rauchten.
     
    2007: In einem Dorf, Pretzien, haben sie ein Exemplar von Anne Franks Tagebuch verbrannt: 9 Monate Gefängnis. – In Berlin, die Bücherverbrennung damals, es seien 20 000 Stück gewesen,«undeutsche Literatur». Meine Bücher wurden auch«verbrannt».
     
    Die zucken zurück, wenn sie merken, daß man von drüben kommt. Kriegen ja auch

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