Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Deutschen ausländerfeindlich sind. Ich höre in der Presse nur Meinungen, die die Ausländer verteidigen. – Man hat mir gesagt, daß die deutschen Gesetze die ausländerfreundlichsten der ganzen Welt sind.
Nartum
Mitternacht
An Schlemmers Ballett gedacht, die Filmaufnahme. Es ist das reinste.
Im TV ein Chaim Noll, Schriftsteller, der, aus der DDR kommend, damals die BRD-Intellektuellen wegen ihrer«DDR-Verliebtheit»angegriffen und verspottet hat. Daß ein (West-)Politiker sich von drüben eine (Stasi-)Frau mitgebracht hat.
Was sind das alles für Geschichten.
2007: Ich versuche einiges aufzufangen in«Plankton». – Jetzt kommen auch noch Memoiren heraus, sie lugen unter den Steinen hervor. Born/Piwitt/Havemann/Krug. – Manches schimmert durch, liest sich zwischen den Zeilen.
Nartum Mi 30. Oktober 1991
Heute war ich mit Robert bei Peter Schulz in HH, der uns mitteilte, daß die Gegenseite unsere Forderungen zum großen Teil erfüllt hat. Wir bekommen 240 000,- für das Haus und das Grundstück. Später wird die Stadt noch Nutzungsentschädigung zahlen, was möglicherweise noch mal die gleiche Summe ausmachen wird.
Verkehr furchtbar, hin Stau und zurück wieder.
Das Haus wurde 1904 für 54 000 Mark gekauft. Der Segen der Väter. Ich werde meinen Anteil in den Ausbau des Archivs einbringen.
2007: Von Nutzungsentschädigung war nie wieder die Rede.«Da mal nachhaken», sagt Hildegard.
Mir war das Haus immer unheimlich, das«Bureau», wie mein Vater sagte. Für ein K-Archiv ungeeignet. Auch das Mönchentor daneben, das die Bremer restaurieren. Es ist zu klein und zu weit vom Zentrum der Stadt entfernt. Dahin verirrt sich niemand. Mein Archiv gehört in den Klosterhof.
Witt erzählte von Anna Seghers, die sei so furchtbar ängstlich gewesen. Der Plan, eine Biographie über sie zu schreiben, mußte aufgegeben werden, dies wollte sie nicht drin haben und das nicht. Alles, was sie schon freigegeben hatte an Materialien, zog sie später wieder zurück.
Ich habe nie die Begeisterung nachvollziehen können, die das «Siebte Kreuz»erregte. Der Schinken ist ja sogar verfilmt worden. Genauso wie die Versauung des«Diktators»von Chaplin durch die Parallelhandlung.
2007: Jetzt drehen sie den Kitsch ins Seriöse. Als ob’s dadurch erträglicher/wahrer würde. Hitler darzustellen! Das hat nur Syberberg geschafft. Und der Film wird nicht gezeigt!
Nartum Do 31. Oktober 1991
Endlich mal wieder einen ganzen Tag für mich. Ich schlief lange und las dann Korrektur, mit freiem Kopf. Nach Tisch wieder sehr lange geschlafen und danach das schwierige 17. Kapitel. Und dann nochmals den«Fall»aus dem 16. Kapitel. Hatte lange darüber nachgedacht, nun erinnerte ich mich der Klangfiguren von Chladni, und die fügten sich ein.
Rest des Abends im Bildarchiv und die Arbeit am«Echolot»vorbereitet. In der Nacht dann Pepping gehört -«Wie schön leuchtet der Morgenstern»- und Pfitzner, den 2. Satz aus seinem Violinkonzert. Dabei Bücher geordnet und ganz zum Schluß noch einige Szenen aus den«Toten»von John Huston. James Joyce eins zu eins umgesetzt. – Sartre hat hübsch über einen Besuch bei Huston geschrieben, nachzulesen in einem Brief an Simone de Beauvoir vom Oktober 1959.
Bittel rief an und sprach freundlich von M/B. Bibliotheksdirektor Dittrich in Hannover informiert, daß ich morgen mit Herrn Gläser und Frau Oschwald komme. Das endgültige Schicksal des Archivs muß geklärt werden.
Im Verlag sei man der Ansicht, M/B sei«der beste Kempowski, den es je gab …».
2007: Er schiebt sich sacht an«Alles umsonst»heran. Zusammen mit«Echolot»und«Trompeten»ein Zeichen, daß das Thema für mich noch lange nicht erledigt ist. – Die Deutschen entdecken es erst jetzt so richtig. Wie ist es möglich, in einem so kultivierten Land wie dem deutschen ein solches Thema Jahrzehnte unter Verschluß zu halten? Lehndorffs«Ostpreußisches Tagebuch». Im Archiv, da liegen sie, die Berichte. Die Tschechen ärgern mich. Im Gegensatz zu den armen Polen haben sie im Krieg weniger ausgestanden. Ich wäre gern mal nach Prag gefahren, aber so ganz«auf eigene Gefahr»?
November 1991
Nartum Fr 1. November 1991
T: Ich sitze im KZ. Habe Angst. Wir sind nur 21 Mann, auch Frauen dabei. Sehe aus dem Fenster. Hitler sitzt vor einem schwankenden Haus. Er steht auf und geht woandershin, in dem Augenblick kracht der Giebel – er ist aus schweren Eichenklötzen
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