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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Helene.
     
    Schon vorher lange von N.Y. geträumt, daß ich vor einer grünen Straßenbahn herlaufe, weil sie so langsam fährt, und ich dann frische Luft kriege. Hinter mir biegt sie ab, und ich merke es nicht, weiß nicht, wo ich bin. Doch man zeigt mir den Weg.
     
    Fuchs mit einem unlesbaren Text im«Spiegel»und Rathenow mit einem grotesken, sehr einleuchtenden in der FAZ sagen, daß die Stasi sogar Gedichte schreiben ließ, um Literatenzirkel ausspähen zu können.
    Rathenow schreibt, er sei bei der Lektüre des«Gulag»wütend über manche antikommunistische Tendenz gewesen. – Das sind diese Vegetarier, die dann doch mal in eine Wurst beißen.

Nartum Do 28. November 1991
     
    I820: Friedrich Engels geboren
    Gestern früh war ich aus irgendeinem Grund äußerst wütend, Simone bezeichnete das als ätzend.
     
    Gestern abend in Hamburg. Erst Buchhandlung Hennings, dann zu Martin Anderschs Buchpräsentation, der hochgradig krebserkrankt ist. Ich erwischte mich dabei, daß ich mich scheute, ihm meine Hand zu geben aus Furcht vor Ansteckung.
     
    2007: Mir geben sie alle die Hand. Anscheinend hatte ich abnorme Gefühle. – Andersch hat die schönste Ausgabe eines meiner Bücher gemacht,«Im Block», 1987, mit meinen Zeichnungen.
     
    23 Uhr
    Ein Tag zwischen Lähmung und Lebensekel und dann doch wohltuenden Aktivitäten. Zwei volle«Echolot»-Tage geordnet, so fange ich morgen mit dem 24. Januar an. Sieht alles ganz gut aus, aber es fehlen noch z. B. Albert Schweitzer, Sven Hedin, George Bush; das Netz ist noch nicht dicht genug. Allgemeines Gejammere.
     
    2007: Von Albert Schweitzer war nichts zu kriegen. Irgendwie ist er bei unseren jungen Leuten in Verschiß. Gibt es Orgelplatten von ihm? Der Tropenhelm, mit dem er immer rumlief.
     
    Fühlte mich ermattet, dreckig, ausgekotzt. Und immer die Zweifel, ob das vernünftig ist, was wir da tun. Wird’s die Welt weiterbringen?
    Meine Handschrift und ich. Was ich geschrieben habe, schlingt sie in sich ein. Und das, was ich dann lese, hat sich verändert.
    Handwerker, Haus- und Gartenputz. Das neue Telefon funktioniert natürlich nicht richtig.
     
    Sehr schöne Fotos von Odette, Kontaktabzüge, schönes Mädchen. Der schwarze Schwan.
     
    «Trompeten»: Festungen sehen von oben aus wie Sterne, wie explodierende Sterne, und sie sind doch der Inbegriff der Beharrung, verewigte Schneekristalle.
    Neben den Kirchen- und Klostergrundrissen auch Festungspläne sammeln.

Nartum Fr 29. November 1991
     
    Nationalfeiertag der Volksrepublik Albanien
Nationalfeiertag der Sozialistischen Föderativen
Republik Jugoslawien
Internationaler Tag der Solidarität mit dem
Kampf des palästinensischen Volkes
    Immer wieder bescheren uns die Verkehrsnachrichten das Erlebnis der Wiedervereinigung. Wenn ein Stau bei Eisenach angesagt wird zum Beispiel, oder:«Heute spricht Bischof Reinelt aus Dresden das ‹Wort zum Sonntag›.»Glücksgefühle durchrieseln mich. Dresden! Eisenach!

Nartum Sa 30. November 1991
     
    TV: Im 2. war ein Rockkonzert und im 1. Weltmeisterschaft in klassischen Tänzen. Sehenswert. Für diese grotesken Entstellungen der Menschheit ist der liebe Gott nicht verantwortlich zu machen.
    Wie natürlich und ungekünstelt dagegen die Naturtänze der Schwarzen oder in Südamerika. Tango in einer Kneipe.
     
    Ein äußerst brutaler US-Krimi erfrischte mich.
    Zwei Stunden Dürrenmatt schenkte ich mir.
     
    Die SU nähert sich dem Bankrott, die Sache läuft aus dem Ruder. Jetzt können sie die Beamten und Soldaten schon nicht mehr bezahlen. Haben sie das je getan?
     
    2007: Wie gut, daß ich meine Pension kriege, denn nun hören die Einladungen zum Lesen auf. Empfindliche Einkommenseinbußen.
     
    Radio: Partita für Cellosolo, 24 Uhr. Das ist Musik, die aus dem Universum kommt. Man hört, daß sie schon zur Mode werden, die Bach’schen Partiten.
     
    Handke hat gesagt, die Jugoslawen sollen man besser zusammenbleiben. Er lebe jetzt – wie die Moderatorin sagte – mit neuer Familie in Paris.
    Seine Tochter hat Abträgliches gesagt über ihn.
     
    Telefoniert mit Keele. Ja,«Dog Days»sei jetzt an alle Bibliotheken geliefert. Da der Verleger ihm nichts sage, werde das Buch wohl auf Eis liegen.
     
    2007: Frau Plöschberger, eine Germanistin aus Graz, erzählte, daß alle meine Bücher in der Bibliothek der Uni vorhanden seien. Ach, habe ich mich da gefreut! Aber kaufen tut sie niemand.
     
    Lieschen nagt am Knochen, Robbi hat sich daneben postiert und guckt zu,

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