Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Paule in der Ferne über den sich anbahnenden Knochenkonflikt der beiden beunruhigt. Lieschen knurrt erheblich, Robbi kommt freundlich näher. Da läßt Lieschen den Knochen fahren und läuft ärgerlich davon.«Es hat ja alles keinen Zweck.»
     
    Keele hat sein Haus umgebaut, man gehe jetzt«minutenlang an Büchern entlang», sagte er, mich zitierend.
     
    «Echolot»: Habe heute den 26. Januar eingegeben.
     
    Leider kein Mittagsschlaf, Kinder schreien drüben, und die Hunde bellen wie verrückt. Das Schreien erinnert mich an den Pausenlärm der Schule.
    Müßte einen Chor aus Kindern verschiedener nationaler Herkunft gründen, aber Ausländer muß man hier mit einer Laterne suchen.
     
    Lit.«Horen»von 1980 über die Gruppe 47.
    Wagenbach:
    Zum Ende der Gruppe. Es sind, glaube ich, zwei Ursachen. Zu einem gewissen Zeitpunkt, etwa ab 1962/63 war das Verhalten der Gruppe eine Versammlung von Klassikern, auch mit dem entsprechenden pompösen Gehabe. Sie bekam so etwas Honoratiorenmäßiges.
    Schlechte Fotos gibt es von den Zusammenkünften: Köpfe winzig klein (immer mit bedeutsam-interessierten Gesichtern), halb verdeckt alle. Wenn man bedenkt, über was für einen Dreck sie zu Gericht saßen. Alles, bis auf weniges, wie weggeblasen. Das Qualmen. Anekdoten, die alle nicht stimmen. So Stories sind das inzwischen. Richters«Etablissement der Schmetterlinge». Ganz gut.
     
    2007: Zu meinem 50. Geburtstag schenkte mir Wagenbach ein Blumengebinde. So was muß man anerkennen. – Wibke Bruhns drängte sich an ihn. Es wird ihr nichts geholfen haben. Sie ist mit ihrem Vater-Buch bereits in den Klassikerhimmel eingeschwebt.
    Für jeden normalen Menschen durchschnittlicher Urteilskraft muß einsichtig sein, daß die Katastrophe nicht aufzuhalten ist.
     
    «Echolot»: Habe heute den 26. Januar eingegeben und den 28. Januar 1943 geordnet. Die Dramatik dieser Wochen ist ungeheuer:
    Sylvester
Stalingrad
Casablanca
30. Januar
Stalingrad
Totaler Krieg
Stalingrad
Weiße Rose
     
    Dazu das über diese Wochen hinaus sichtbar werdende Afrika-Fiasko und die beginnenden Großluftoffensiven.

Dezember 1991
     

Nartum So 1. Dezember 1991
     
    I936: Hans Beimler, Divisionskommandant bei den
Internationalen Brigaden in Spanien, vor Madrid gefallen
Tag der Grenztruppen der DDR
    Es kommt ein Schiff geladen
Bis an sein höchsten Bord,
Trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
Des Vaters ewig’s Wort …
     
    Das Schiff steht still im Triebe,
es trägt ein’ teure Last;
das Segel ist die Liebe,
Der Heilig’ Geist der Mast.
(Johannes Tauler)
    Dominikaner war er, strenge Leute waren das. Ging die Inquisition nicht von ihnen aus? – Er strebe das Leerwerden der Seele von Bildern an. Daß das überhaupt geht. – Sein sonderbares Lied, ohne das ich mir die Adventszeit nicht vorstellen kann. Schon die zweite Strophe kennt heute kaum noch einer.

Nartum Mo 2. Dezember 1991
     
    6 Uhr.
    Irgend jemand hat Viermonats-Föten aus Plastik -«Made in Hongkong»- in alle Welt verschickt, um der Menschheit zu demonstrieren, was sie da tut, 400 000 Kinder im Mutterleib pro Jahr allein in Deutschland zu töten. Einen großen Globus haben sie mit den Kindern beklebt. Das findet sie geschmacklos, sagt eine Passantin. Was?
    Nun ereifern sich diverse Abgeordnete für Gesetze, daß man Kinder nicht anschreien darf. Das tun die gleichen Volksvertreter, die sich anschreien wegen der Embryotötungen, ob nun bis zum 2. oder 3. oder 4. Monat. Da ist die neue Giftpille schon humaner, die sofort nach Ausbleiben der Regel geschluckt werden kann.
    Abtreibungsarzt: Der Fötus wird zersägt im Mutterleib. Die kleinen Finger erkennt man, alles … Das ärztliche Gewissen. Wenn alte Menschen vor Schmerzen um Hilfe schreien und den Tod erflehen, schweigt das ärztliche Gewissen. Da ist von Moral die Rede, die sonst auf keinem Gebiet mehr eine Rolle spielt. Was ist, wenn Kinder ihre Eltern anschreien? Oder in der Pubertät, dieses unglaubliche Benehmen der Töchter, von dem alle Mütter erzählen können?
    Der Zusammenhang zwischen Christi Geburt und Abtreibungen. – Mutter hat’s auch gemacht. Ein Junge wäre es geworden, 1936.
     
    T: Die Rumänen plündern unser Haus, ein Gutshaus im alten soliden Stil. Das Dorf ist machtlos gegen diese Leute mit dem Blechhelm auf.
     
    Ulla Hahn schreibt in einer Hymne über Stephan Hermlin, der habe sich seinen Lebensunterhalt in den Dreißigern als Druckerlehrling verdient! Ein Lehrling bekam damals 10 Mark pro Monat. Wie soll das