Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Abendessen, daß mir was zu schaffen machen würde.
Das absolute Schweigen der sogenannten Friedensbewegung jetzt, wo der Krieg doch praktisch in unserem Haus geführt wird. Keine Talk-Shows, nichts.
Im Radio nichts für den Seelenfrieden, da brüllen sie irgendeine Messe, als ob’s ums Leben geht. Tut es ja auch. Der Zusammenhang zwischen dem Fortissimo unserer Tage (Rockmusik!) und dem Selbstgefühl. Sie müssen nicht überzeugt sein von den Botschaften, die sie in die Gegend schreien, sonst könnten sie’s auch leiser abmachen. Aber sie haben keine Botschaften. – Die Ähnlichkeit mit den Nazi-Veranstaltungen, Wien, Lustgarten in Berlin usw. Wie es da wogte. Nur die Mikrofone waren schlechter.
Schönherr brachte gestern noch weitere Borde an im Fotoarchiv. Die Sammlung hat sich sehr vermehrt.
Neben dem Archiv werde ich mir noch eine Privatsammlung anlegen.
Mein Zeitungsvernichtungssofa.
Irgendwo las ich, daß Kujau von der Universität Oldenburg den Dr. h.c. verliehen bekommen hat für ein (gefälschtes) Paracelsus-Dokument. Das kann doch wohl nicht sein? – Der Mann gefällt mir übrigens.
Je älter ich werde, desto mehr Uhren muß ich haben. In jedem Zimmer eine Funkuhr – nicht als Mahnung: ultima latet, sondern um noch mehr herauszupressen aus jeder Stunde. Beim Frühstück vergeude ich Zeit, da bin ich verschwenderisch. Wie gut, daß die Tageszeitung erst mittags kommt, sonst wäre der ganze Tag im Eimer. – Eine zweite Zeitung zu abonnieren geht nicht, weil es keine gibt.
Ich nahm einen alten Film mit Adolf Wohlbrück auf, werde ihn mir heute abend ansehen.
2 Uhr
Jetzt lassen die Schmerzen nach. Im Radio angenehme Flötentöne. Ich lese noch ein wenig in den Anstreichungen, die Kirsten in mein Handexemplar des«Sirius»übertragen hat. Es kommen immer noch Briefe. Die Leute wundern sich, daß es so ein Buch gibt. Die sitzen immer noch auf ihrem en gros eingekauften Böll.
Gestern schrieb mir«der dicke Herr Jahn», den ich gar nicht kenne, er schlägt das Buch zu, zieht seine Kreise um das Buch, öffnet es wieder und liest weiter, schreibt er.
Man möchte schon ein Echo haben auf die Signale, die man mit den Büchern auf die Reise geschickt hat. Das sogenannte Feedback. Es ereignet sich immer auf Situationen in dem Buch, die man gar nicht so wichtig nahm; Reaktionen, mit denen man gar nicht gerechnet hat.
In das tägliche Herumblödeln weht mir ab und zu eine farbige, plastische Erinnerung zu. Angenehm! Fast immer kommentiert sie das, was man da gerade tut oder erlebt, aber man hat gar nicht die Zeit oder Aufmerksamkeit, den Kommentar auszuwerten.
Wozu das dann also? Als unbewußtes Korrektiv. Manchmal schwanke ich,«weil ein lieblicher Gedanke um ein kleines mich beschwert …»
Merkwürdig pedantisch die Briefe, die Christian Morgenstern an Robert Walser gesandt hat. Hat ihm erklärt, wie man ein Manuskript korrigiert, welche Zeichen man verwendet. Außerhalb seiner grotesken Gedichtproduktion scheint er ziemlich humorlos gewesen zu sein, der Morgenstern. (Sein Hang zur Anthroposophie, unerträglich.) – In Göttingen sah ich ein kleines Gemälde seines Vaters. War nicht doll.
Rußland hat die Ukraine anerkannt.
Die Polen haben große Mengen westliche Hilfsgüter auf dem Weltmarkt verkauft. Was unsere Leute für Geld verschwenden. Da wünschte man sich einen Charakter, wie Friedrich Wilhelm I., den«Plusmacher»(Klepper). Die ganze Entwicklungshilfe ist eine einzige Geldvernichtung. Schlimmer noch, sie hat die Wirkung einer Überdüngung. Positive Wirkung: Die hilfsbedürftigen Völker kaufen bei uns Maschinen dafür. (Die sie dann verrotten lassen. Geophantastischer Wahnsinn, wie Gehlen sagt.)
«Echolot»:
Skizze von Walter Kempowski
Zu den Zwischentexten auch Rückblicke oder Zeitsprünge.
Verkehrsmeldungen:«Bei Eisenach ein defekter Laster.»
2.15 Uhr
Licht aus! Im Radio ein Mensch, der aus voller Kraft mit beiden Händen in Gegenbewegung auf die Klaviatur haut. So machten wir es als Kinder.
14 Uhr
Ich wollte Sarah Kirsch für April einladen:
«Kannst du nicht mal wieder bei uns lesen?»
«Ach nee, ich hab’ soviel gelesen letzte Zeit …»
«Aber wir wollen dich erst im April 1992 haben!»
«Nee – wenn du vielleicht den Plan für 1993 machst …»
Ich weiß nicht, was sie hat, anderswo liest sie dauernd. Vielleicht zahlen wir zu wenig?
Wann schreibt F. J. G. endlich seinen ersten Roman? Es ist zu
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