Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Ich mußte an das Lehrgeld denken, das ich bereits gezahlt habe: die Rechtsanwaltskosten, das Hausgutachten, die Architektenpleite. Vom Lehrgeld, das ich für andere zahlen mußte, schweigen wir (ein Monat«Sirius»nicht lieferbar!). Und denkst du noch an den Tastendruck, mit dem du das«Echolot»-Register gelöscht hast?
Die Chinesen haben in Tibet den Wald abgeholzt, auch so ein sozialistisches Heldenstück!
Nartum So 26. Mai 1991, schön
Zwei Weberknechte sitzen auf dem Fliegenfenster und begatten sich.
Mein Vetter aus Hamburg kam ganz überraschend.
Mußte an seinen würdigen Vater denken, dem er sehr ähnlich sieht, aber er im Jeans-Anzug und mit ungekämmten Haaren.
Im TV Krenz, der sich nun schon ganz auf die Rolle des Pensionärs eingestellt hat. Loewe hat ihm tüchtig Bescheid gegeben:«Was heißt hier Ideale?»Die DDR sei vom ersten Tag ihres Bestehens an undemokratisch und verbrecherisch gewesen. Sehr wahr!
Auf so was läßt sich schwer antworten. – O Gott, die Deutschen werden schon dafür sorgen, daß alles in Vergessenheit gerät.
Tagung des VS in Travemünde. Wie jämmerlich! Kein bekanntes Gesicht, nur Kurzgeschichtenschreiber.
Aus dem Notizbuch:
Wer kann in einem Gesicht lesen?
So lange hinsehen, wie es geht, dann merken: Jetzt wird sie gleich zurückgucken. In letzter Sekunde. – Sich satt sehen! Übersättigung.
Jetzt lacht sie.
Woher die schwarzen Haare?
Statische Gesichter, kaum veränderlich. Die Schwarze ist modulationsreich, ganz weich, dann Junge, vertrauensvoll.
Ein Mensch, der Luft verdrängt. Sein Dasein.
Haß – schön.
Häßlich = vom Haß deformiert.
Die Zentrifugalkräfte der Konzentration.
Zeitsprung.
Gießkannenexpreß (tröpfelweise).
«Schweinebuckel».
Zentrale Rio.
2007: Jetzt gibt es eine Maschine, die Gesichter lesen kann. – Fuß-Erkennungsapparate gab es schon, als wir noch Kinder waren.
Das salomonische Urteil. Wenn Frauen sich um einen Säugling streiten. Passiert eigentlich selten, oder man erfährt’s nicht. -
Ein Mann sprach mich 1944 in Rostock an, meinte, ich sähe seinem Sohn so ähnlich.
Lesung in Rotenburg.
Nartum Di 28. Mai 1991
Heute hat sich Hildegard nach Rostock begeben, sie will ein paar Tage ausspannen. Die ununterbrochenen Handwerkerheimsuchungen seit Anfang des Jahres haben ihr wohl doch sehr zugesetzt. Dazu das langsame Sterben ihrer Mutter – sie ist ja fast jeden Tag nach Rotenburg gefahren. Ich habe in allem das bessere Teil erwählt, soll ich mich dafür entschuldigen? Für mich ist Hildegards Reise auch ein Vorteil, weil ich dann besser arbeiten kann.
Gestern kam ein Herr Sundermann, der mir beim Dichten über die Schulter gucken will. Ich nahm ihn und die sehr leicht zu ertragende Kirsten Wiencke mit nach Oldenburg. Letztere hat sich hier erstaunlich gut eingefügt, ringt mit dem Schaf, wäscht ihre Jeans im Waschbecken und bevorzugt es – ganz wie Simone -, auf dem Fußboden zu arbeiten. Ob das eine biogenetische Entwicklungsstufe ist?
Heute früh las ich in Bremen aus M/B. Mir war der Text ganz fremd, aber er hielt. Keinerlei Verlangen, daran weiterzuschreiben.
Mit Sundermann sprach ich über das«Echolot», mir wurde die Notwendigkeit einer Gegenbewegung recht deutlich. Dies könnte eben doch mit alten und älteren Fotos bewirkt werden: Zu den Zwischentexten käme dann ein«Zeitsprung».
Die Natur ledert sich mal wieder ein, die Hellberg-Weide ist voller Pusteblumen, Freude aller Kinder. Ich bin das einzige Kind weit und breit, das sich darüber freut.
T: Helmut Schmidt in einem sonderbaren, himmelblauen Auto; ich versuche, mich bei ihm anzubiedern.
Schubert Streichquartett G-Dur.
Schewardnadse sagt, daß die SU in puncto Lebensstandard an
50. Stelle, sogar unterhalb der 50. Stelle steht. Und alles haben sie: Öl, Gas, Gold, Diamanten. Wo bleiben sie damit?
2007: Die Autobiographie von Nabokov! Leider erfahren wir, daß sie getürkt worden sei. Warum sollen wir das unbedingt wissen?
Nartum Mi 29. Mai 1991
1949: Bildung der Nationalen Front
des demokratischen Deutschland
Durch zu starken Kaffee, den ich allerdings mit Genuß trank, verdarb ich mir leider den Nachmittag. Die Empfindlichkeitswellen wallten in mir rauf und runter, und wie das dann so ist, alles fiel mir hin, und ich stieß mich, und jedes kleine Malheur war von Wutausbrüchen gefolgt, die auf Außenstehende immer so abstoßend wirken. Als Schriftsteller hat man beherrscht und in
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