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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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sage:«Nach meinen bisherigen Erfahrungen ist es ausgeschlossen, daß wir das Flugzeug noch kriegen.»
     
    Am zweiten Tag hatte sich Sundermann, da wir doch so nahe beieinandersaßen, leicht parfümiert, oder war es Rasierwasser?
     
    Engholm ist für Bonn als Hauptstadt, weil er da groß geworden sei: keine sehr staatsmännische Begründung. So mancher wird gegen Berlin sein, weil er in Bonn ein Eigenheim hat.
     
    Kirsten war gestern abend auf einem zweiten Dorffest. Ein Junge namens Rainer habe dauernd nur mit ihr getanzt und anschließend mit ihr spazierengehen wollen. Es wär’ jetzt so wunderschön im Wald.
     
    Inzwischen läuft auch das Brünnlein auf meinem Hof. Der Trog stammt von einem Ddr. Rugen von 1867 Punkt. 124 Jahre alt.
    Was mag«Ddr.»heißen? Diederich?
    Ich habe den Abfluß reguliert, das abfließende Wasser ergoß sich direkt neben den Rost. Der Efeu entwickelt sich, auf dem Wasser schwimmen große Blasen, zerplatzen. Ich habe in Ermangelung von«Artefakten», die ich hier eigentlich aufstellen wollte, die Ziegelsteine aufgereiht, die ich von drüben mitbrachte, aus Wismar die beiden Formsteine, St. Georgen, und einiges aus Rostock. Auch einen Formstein von St. Ansgari in Bremen.
     
    Dankbarkeit und ein Gedanke an die Toten.
     
    2007: Dörfler erzählte, daß in Wismar die alten Ziegelsteine von St. Georgen zermahlen werden und zu neuen«alten»gegossen. – Hildegard:«Nein!»- Ob’s stimmt?
     
    Der Pianist Kempff ist gestorben, im 96. Lebensjahr. Welche Welten gehen täglich zugrunde. Wie große Segelschiffe, die sich auf die Seite legen.
    Mutter und Ulla haben ihm mal aufgelauert, in Rostock, nach einem Konzert.
    «Isser das?»
    «Ja, das isser.»
    Dieser Mann mit seinen feinen Händen wurde 1945 noch zum Volkssturm einberufen, wo er an der Panzerfaust ausgebildet wurde! Später lebte er dann in Positano. Man sah das Haus kürzlich in einem Film, ein schöner See mit Schwänen drauf.
     
    2007: Jetzt hängt da eine Gedenktafel. – Ich habe auch eine CD von ihm, er spielt auf einem schönen alten Bechstein. Ich kann das Cembalo-Gezirpe nicht ertragen. Die Seele braucht schließlich auch was.
     
    Auch kümmerte er sich um die Jugend und guckte denen beim Spielen über die Schulter. Joachim Kaiser sagt über ihn:«Sein Spiel enthält keine Spur eines billigen oder hochherzigen Donners. »
    Was so ein Mensch alles erlebt! Er hat sogar mal Kemal Atatürk beraten. Konzertreisen von München nach Allenstein. Und immer dasselbe gespielt. Und Elly Ney entgegengesetzt, von Königsberg nach München, auch immer dasselbe gespielt. Moderne Musik mochte er nicht. – Seine Tochter Diana hat ein Buch über ihn geschrieben.
    Ob es in Potsdam eine Wilhelm-Kempff-Gedächtnisstätte gibt? In Japan jedenfalls ist eine ganze Insel nach ihm benannt.
     
    2007: Ich hab’s immerhin zu einem Stern gebracht, der nach mir benannt wurde.
     
    Ich habe eine Affinität zu Menschen, deren Name so ähnlich anfängt wie meiner. Aber in Chemnitz möchte ich deshalb trotzdem nicht wohnen.
     
    2007: Von Celibidache gelesen, in Mainz, daß er da den Nachwuchs anschreit:«Das soll dirigieren sein? Sie zucken ja nur!»
     
    Ich sitze hier so schön in der Sonne, das Brünnlein schnattert, zwei Hühner mir zur Seite, ihr Gefieder pflegend.
    Hinten blökt das Schaf. Es möchte wahrscheinlich mit Kirsten einen Saftiges-Gras-Spaziergang machen.
    Nebenan, beim Nachbarn, beobachtete ich vor ein paar Tagen, wie der Schäferhund das Schaf dort betrachtete.
    Unser Lamm jagt Elstern, Tauben, Hühner weg, aber immer nur ein paar Schritte.
    Für diese eine Stunde all das Theater.
     
    Eine infektiöse Schlappheit hat mich ergriffen, die Feder meiner Spannkraft ist schlaff. Am liebsten würde ich ins Bett gehen und vor mich hin dämmern. In Portland der eine Nachmittag mit Hildegard, in der Walfisch-Bucht, das wäre jetzt das Richtige. Die Mattigkeit wechselt über zu Ekel, wenn ich doch etwas zu tun versuche. Merkwürdiger Zustand. Ich vermute, daß dieser Zustand dem Kräftesammeln dient. Trotzdem leide ich. Heute hinderte mich ein übergroßer Trecker, mit dem die Wiese gemäht wurde, daran, mich wie in Davos auf einen Liegestuhl zu legen und in die Gegend zu dämmern. Das Wetter ist prachtvoll, Hildegard hat mal wieder Glück gehabt.

Nartum Fr 31. Mai 1991
     
    1924: Gründung des Roten Frontkämpferbundes
    In der Nacht habe ich noch drei Themen für den Foto-Zeitsprung angerissen, das fast Automatische der Ideenankunft und

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