Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
sich ruhend durch die Gegend zu schreiten. Nervositätsexplosionen wirken verstörend auf die Menschheit. Bedauerlich waren meine Gereiztheiten schon deshalb, weil das herrlichste Wetter sich um unser Haus anordnete und ansonsten absolute Ruhe im Schiff herrschte.
Gestern abend hätte es beinahe noch eine Katastrophe gegeben. Ein Mann rief an, er teilte uns mit, daß er, aus Dresden kommend, sich nunmehr«MAS»(mit allen Sachen) auf der Dorfstraße in Bockel befände. Ein Knast-Kamerad also, der nicht abgewimmelt werden konnte. Es war 6 Uhr, und wir wollten sowieso gerade zum Essen fahren, Sundermann, Kirsten und ich, und dann nahmen wir ihn einfach mit, und ich kaufte mich durch ein Spargelgericht frei. Dieser Mensch, der seine Prothese zum besseren Spargelgenuß aus dem Mund herausnahm und in die Hosentasche steckte, hat nach der neunjährigen Haft nie wieder richtig Fuß fassen können, was u. a. an einer Lungenkrankheit gelegen haben mag, von der sein lockerer Husten während des Essens immer wieder Zeugnis ablegte. Der Mann hatte auch ein Zelt bei sich und hätte sich damit wohl gar in unserem Garten niedergelassen, wenn ich ihm nicht rasch entschlossen bei Köhnken ein Zimmer spendiert hätte. Nachdem er sich auch noch 100 DM an Reisekosten für seinen unerbetenen Besuch von mir zahlen ließ, schieden wir ziemlich abrupt. Nicht auszudenken, dieser Mann wäre womöglich ganz unvermittelt hier in Nartum aufgetaucht. Wir wären ja absolut geliefert gewesen. – Es ist eigentlich erstaunlich, daß so was nicht öfter passiert.
Sundermann, der sich von mir launig in«das Handwerk des Schreibens»einführen ließ. Ich interpretierte ihm ein Präludium aus dem«Wohltemperierten Klavier», um seinen Sinn für«Form»zu wecken. Es waren einige kluge Äußerungen von ihm zu hören über das«Echolot», und möglicherweise schickt er uns auch noch pfarramtliches Material für den Moloch. Mir ist eine Lösung für die Erzielung von Zeittiefe eingefallen: Ich werde Fotos aus den 20er und 30er Jahren thematisch und zyklisch als Einlagen zwischen die Texte fügen. Die 43er Fotos hingegen werden in die Texte integriert. Die Foto-«Abteilungen»werden den Titel«Zeitsprung»erhalten.
Ein anderer Autor würde am«Echolot»zehn Jahre arbeiten, und in der Tat, jede Lücke, die ich schließe, weist auf Katakombengänge hin, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte. Unbedingt vermeiden muß ich es, Nazi-Material zu verwenden. Immer lauschen wir von 1991 aus, und was da an Hitler-Bildern, Plakaten und Propagandamaterial an uns andringt, darf höchstens vom Leser zufällig im Hintergrund wahrgenommen werden.
Kirsten Wiencke war wieder mit den beiden Schafen unterwegs. Sie lagerte auf einer Decke zwischen Löwenzahn und saftigen Gräsern. Erich, der Nachbar, hatte ausgerechnet zu dieser Zeit und Stunde ganz in ihrer Nähe, jenseits des Zaunes, Unkraut zu zupfen, was er merkwürdigerweise liegend tat. Kirsten versuchte übrigens zu lesen, was wohl nicht viel Erfolg hatte, denn die Schafe machten ihr zu schaffen. Später sah ich sie mit dem Mutterschaf am Bande gesittet die Allee hinunterschlendern. Sie hält im übrigen die Küche peinlich sauber und macht wenig von sich her.
2007: Inzwischen verheiratet und zwei Kinder. Wie sie hinauswandern in die weite Welt!
TV: Waghalsige Wellenreiter vor Hawaii. Steffi Graf, die wieder mal Pickel an der Wange hat, und Becker, der sage und schreibe vier Stunden und zehn Minuten brauchte, um seinen ersten Matchpoint zu erzielen, oder wie das heißt. Seine Partie wurde vom Kommentator«Tenniskrimi»genannt. Kitschige Parteitagsauftritte der SPD mit einem Strick, an dem sich die alten Herren anklammerten und ein Kameradschaftslied sangen!, einen Vergleich mit«Seilschaften»herausfordernd. Eine bekloppte Künstlerin führte irgendwelchen Mumpitz mit ihrem Schlips vor. Engholm verschaffte sich frische Luft mit einem Taschenventilator, und die Genossen trugen ein entleertes Grinsen zur Schau.
Armes Deutschland!
Letzteres wird nun wohl zur Sau gemacht werden durch die«Burda»-Zeitung«Super». Der Verleger hat herausgekriegt, daß sich Geld damit verdienen läßt, wenn man die Ossis gegen die Wessis aufhetzt (FAZ).
Nartum Do 30. Mai 1991
T: Endloser T., wir wollen nach Tibet fliegen, und Hildegard bummelt herum, macht Besuche und kauft Proviant ein, es sind nur noch fünf Minuten, als sie es endlich kapiert! Ein Herr bietet uns an, uns zum Flughafen zu fahren. Ich
Weitere Kostenlose Bücher